Soziale Sicherheit statt Kündigung. In der DDR musste niemand auf der Straße stehen, weil er kein Einkommen hatte. Das zumindest war die offizielle Version der Regierung. Doch auch in der DDR waren Hunderttausende Menschen ohne Arbeit.
Das Recht auf Arbeit war in der DDR gesetzlich verankert. Da es laut Artikel 24 der Verfassung gleichzeitig eine Pflicht zur Arbeit gab, herrschte de facto Vollbeschäftigung. «Seit Mitte der fünfziger Jahre gab es in der DDR keine statistisch signifikante Arbeitslosigkeit», heißt es in einer Publikation der Bundeszentrale für politische Bildung. Im Gegensatz zur Bundesrepublik gingen in der DDR sogar mehr als 90 Prozent der Frauen im arbeitsfähigen Alter einer Beschäftigung nach. Doch der Schein trog, denn Mangelwirtschaft, häufige Stillstandzeiten der Maschinen in den Fabriken und der ungeheure Verwaltungs- und Sicherheitsapparat sorgten dafür, dass Tausende Menschen nicht oder zumindest nicht sinnvoll beschäftigt waren.
Experten sprechen dabei von verdeckter Arbeitslosigkeit. Einer Studie zufolge, die das Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) im November 1990 herausgegeben hat, betraf das 15 Prozent der Bevölkerung. Somit waren 1,4 Millionen Menschen in der DDR im Prinzip ohne Arbeit – auch wenn das auf dem Papier anders aussah.
«Wir sind damals quer durch die DDR gereist und haben Leute zu ihrer Situation befragt», erinnert sich ifo-Mitarbeiter Joachim Gürtler, einer der Hauptautoren der Studie. Er und seine Kollegen führten 38 Interviews in Betrieben, Behörden und wissenschaftlichen Einrichtungen, um herauszufinden, wie sich die Zahlen auf dem Arbeitsmarkt nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern entwickeln könnten.
Insgesamt befragten die Forscher 407.000 Angestellte – 4,5 Prozent der Beschäftigten in der DDR. «Es herrschte damals eine große Unsicherheit. Manche dachten, es [Vollbeschäftigung und soziale Absicherung] würde bestimmt noch sieben Jahre so weitergehen, ehe sich etwas auf dem Arbeitsmarkt ändert.»
Doch dem war nicht so. In drei Wellen stieg die Arbeitslosenquote stetig an. Waren im Januar 1990 nur 9000 Menschen ohne Beschäftigung, standen im Mai schon 95.000 Bürger der ehemaligen DDR ohne Job da – die Zahlen hatten sich in nur vier Monaten mehr als verzehnfacht. Dennoch war die Arbeitslosenquote damit im Vergleich zu den alten Bundesländern noch sehr gering, sie betrug lediglich 1,1 Prozent.
In einer ersten Welle wurden ab Herbst 1989 vor allem Mitarbeiter einzelner Parteien sowie der Staatssicherheit (Stasi) entlassen. Die zweite Welle erfasste der Studie zufolge den Staatsapparat, die Nationale Volksarmee sowie gesellschaftliche Orgsanisationen wie die Freie Deutsche Jugend. Schlussendlich traf es auch die Volkseigenen Kombinate und Betriebe, in denen reihenweise Arbeitskräfte auf die Straße gesetzt wurden.
Anhand dieser Entwicklung kristallisiert sich bereits das Kernproblem der zuvor verdeckten Arbeitslosigkeit in der DDR heraus. Zahlreiche Angestellte waren «unter den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen aus betriebswirtschaftlicher Sicht überflüssig», schrieben Gürtler und seine Kollegen damals. Oft verbrachten sie ihre Arbeitszeit mit sozialen oder politischen Aufgaben, mussten weiterbeschäftigt werden, obwohl es keine Verwendung für sie gab – sie aber nicht gekündigt werden konnten. Auch Rentner konnten ihre Arbeit bis ins hohe Alter fortsetzen, selbst wenn sie kaum noch Leistung erbrachten.
Ein weiterer Faktor waren die Bedingungen, unter denen gearbeitet wurde. Die DDR war eine Mangelwirtschaft. Oft fehlten die nötigen Rohstoffe und Materialien, Maschinen standen vorübergehend still – im Durchschnitt bis zu zwei Stunden täglich. Aufgrund der gesetzlichen Beschäftigungsgarantie blieben die Menschen dennoch in den Betrieben – ohne eine Leistung zu erbringen oder Waren zu produzieren. Weil sie nicht gekündigt werden konnten, fand ein regelrechtes Tauschgeschäft zwischen den allesamt verstaatlichen Betrieben und Einrichtungen statt.
Der ifo-Studie zufolge waren in jedem Betrieb 15 bis 30 Prozent der Beschäftigten von bedeckter Arbeitslosigkeit betroffen. «Das gemessene Potenzial macht deutlich, wie stark die Beschäftigung in den DDR-Betrieben gefährdet ist und in welchem Ausmaß Ersatzarbeitsplätze erforderlich sein werden, um die offene Arbeitslosigkeit gering zu halten», lautete im Herbst 1990 das Fazit der Autoren. Sie sollten Recht behalten. Während in den alten Bundesländern die durchschnittliche Arbeitslosenquote bei 7,2 Prozent liegt (Stand: April 2009, Bundesagentur für Arbeit), sind auf dem Gebiet der ehemaligen DDR 13,9 Prozent der Bevölkerung ohne Job.
mat