Julian Nagelsmann macht jetzt Urlaub. Mit seinem emotionalen EM-Schlusswort demonstriert der Bundestrainer den Willen, sein begonnenes Werk noch zu krönen. Fan-Liebe und WM-Titel - darum geht es.
Julian Nagelsmann wird seinen 37. Geburtstag feiern. Er wird sich auch ganz sicher das eine oder andere Mal aufs Mountainbike schwingen und hinauf in die geliebten Berge radeln. Der Blick in die Weite, von ganz oben, das war schon oft Inspiration und Antrieb. In den Sommerwochen werden Nagelsmanns in aller Öffentlichkeit gezeigte Tränen trocknen. Die Emotionen dieser Fußball-EM, die Sehnsucht nach einem starken Wir-Gefühl im Land, die will der Bundestrainer aber mitnehmen in die für ihn viel zu lange Zeit bis zur nächsten Titelchance.
"Wir wollen Weltmeister werden", sagte Nagelsmann keck und vollmundig gleich nach dem so schmerzhaften 1:2 im Viertelfinale gegen Spanien. "Ein goldener Pokal ist auch ganz schön", legte er in Anspielung auf die glänzende WM-Trophäe bei seinem emotionalen EM-Abschlussstatement nach. Der größtmögliche Titel in Amerika 2026 ist jetzt das große Ziel. Und er ist nach diesen EM-Wochen keine Fantasterei.
Sportlich hat die Nationalmannschaft nach sechs Jahren Jammertal wieder an die größten Kontinentalmächte wie Spanien, Frankreich, England und die Niederlande angedockt. Diesmal musste man dem Quartett noch den Vortritt ins EM-Halbfinale lassen. Die Abschiedsbotschaft von Toni Kroos macht aber Mut: "Wir sind wieder auf Augenhöhe mit den Besten!"
Social-Media-Brief an die Fans
Der größte Gewinn dieses Heimturniers war aber die emotionale Wiedervereinigung mit den Fans. Von diesem "Turnier wird etwas bleiben", schrieben die Nationalspieler in einem offenen Social-Media-Brief an ihre Anhänger. Was für die mit Leidenschaft und Authentizität zurückgewonnenen Fans aber auch hängen blieb, war ein Bundestrainer, wie ihn die Nation noch nicht gesehen hat. So menschlich, so emotional und mit so einem klaren Appell für einen Ruck zu einem besseren Miteinander im Land kannte man den noch 36-Jährigen nicht.
Mit seinem bemerkenswerten Auftritt hat Nagelsmann sein ganz persönliches Turnierfazit gezogen. Der große Wunsch: Die positive Sommerstimmung rund um die Nationalmannschaft soll jetzt auch im Alltag fortgetragen werden. Jenseits der großen sportlichen Ambitionen.
"Ich glaube, wir können alle anpacken, dass es nicht so traurig ist, wie es gerade wirkt und nicht alles schwarzgemalt werden muss, wie es gerade schwarzgemalt wird. Man kann immer Probleme sehen – und wir haben Probleme im Land. Man kann aber auch immer von Lösungen sprechen", sagte Nagelsmann am Samstag bei der Abschlusspressekonferenz im Teamquartier in Herzogenaurach.
Gartenarbeit mit den Nachbarn
Wie so oft wählte der sichtlich angefasste Bundestrainer ein alltägliches Beispiel. "Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig." Anpacken, gemeinsam. Mit Freude. Das solle das Motto für alle sein. Die DFB-Elf steht nun mit ihm als dem großen Bundesmotivator als Beispiel dafür, was möglich ist, wenn man aus schweren Zeiten kommt.
Auch wenn der Titel-Coup diesmal noch misslang. "Wir hätten gerne den Fans mehr gegeben", versicherte der Bundestrainer, eine Woche mit gutem Fußball hätte es als Zugabe geben sollen. Und: "Wir hätten gerne den Titel geholt."
Nagelsmann begann seine Rede mit einem "Dank an die Fans" und ging mit seinen Worten weit über den Fußball hinaus. Er wurde zeitweise nahezu staatstragend, wie man es von Spitzenpolitikern mit so viel Verve lange nicht gehört hat. Die Niederlage gegen Spanien durch den späten Treffer zum 1:2 ganz am Ende der Verlängerung beschäftigte ihn aber weiter immens. Und nicht nur ihn. Viele Tränen - auch von den Spielern - habe es gegeben im Teamquartier. Bis tief in die Nacht.
Lange hätten die Spieler noch zusammengesessen - ohne Alkohol - und hätten gesprochen. Der sehnlichste Wunsch, die letzten fünf Minuten gegen Spanien nochmal spielen zu dürfen, bleibt natürlich unerfüllt, auch wenn eine zwischen ehrlichem Zorn, Trauer und Social-Media-Klamauk pendelnde Online-Petition das Gegenteil erreichen will.
Einer der genau weiß, wie man aus sportlichen Tief- und Rückschlägen eine spezielle Kraft ziehen kann, dachte auch in Lösungen: "So etwas schweißt nochmal zusammen", sagte ARD-Experte Bastian Schweinsteiger zu dem dramatischen und unverdient wirkenden Aus gegen Spanien. Er selbst hatte mehrere Anläufe gebraucht, hatte zweimal (EM 2008/WM 2010) gegen Spanien verloren, bevor 2014 der WM-Coup gelang. Ein anderer historischer Fakt, der Mut macht: Zwei Jahre nach dem Last-Minute-Aus gegen die Niederlande (1:2) bei der Heim-EM 1988 wurde Deutschland mit Teamchef Franz Beckenbauer 1990 Weltmeister.
"Wusiala" als Verheißung
Nagelsmann weiß, die Grundsubstanz passt. Das "Wusiala"-Traumduo Jamal Musiala und Florian Wirtz ist eine Verheißung. Eine Personalerschütterung wie bei seiner März-Revolution muss der Bundestrainer nach dem Sommerurlaub, wenn es in der Nations League im September gegen Ungarn und Holland weitergeht, nicht wiederholen.
Die wichtigste Frage ist nicht, ob und wie Manuel Neuer (38) und Thomas Müller (34) als letzte Rio-Weltmeister stilvoll in den DFB-Ruhestand verabschiedet werden. Sie sollen das selber verkünden, war die leicht verklausulierte Botschaft von Nagelmann. Die wichtigste Personalie ist: Wer ersetzt Kroos, der als dritter verbliebener Champion von 2014 von sich aus ganz aufhört und mit maximalen Huldigungen und Pathos verabschiedet wurde?
Nagelsmann nannte drei Namen: Pascal Groß, obwohl mit 33 Jahren auch schon ein Oldie, kann nach seiner EM-Rolle als 45-Minuten-Backup aufrücken. In Aleksandar Pavlovic (20) vom FC Bayern und Stuttgarts Angelo Stiller (23) sind zwei junge Kandidaten bereit.
DFB-Chef: "Unglaublicher Spirit"
Nagelsmann hatte sich bald nach der nächtlichen Rückkehr nach Franken zurückgezogen. Alleine müsse er die Dinge verarbeiten, nach möglichen Fehlern suchen. Viele werde er nicht finden, versicherten DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Sportdirektor Rudi Völler. "Er hat das Amt des Bundestrainers für mich auch ein Stück weit neu definiert in den vergangenen Wochen, so wie er aufgetreten ist. Er hat eine unglaubliche Energie ausgestrahlt, einen unglaublichen Spirit", sagte Neuendorf.
Der Verbandschef konnte es an seinem 63. Geburtstag noch als Geschenk empfinden, mit dem nur etwas mehr als halb so alten Nagelsmann einen völlig neuen Typ Bundestrainer für die DFB-Elf verpflichtet zu haben. Dieser Bundestrainer braucht nun eine kleine Auszeit, wie er anmerkte. "Ich freue mich auch, wieder anzugreifen, aber ein paar Tage müsst ihr mir schon geben, die brauche ich", sagte Nagelmann.
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