Nach dem Umbruch im Sommer erwarten nur wenige, dass Holstein Kiel um den Bundesliga-Aufstieg spielt. Nun kommt das Team als Erster zum Top-Spiel zum HSV. Das Ergebnis einer langjährigen Entwicklung.
Wo Holstein Kiel ist, möchte der Hamburger SV gern sein - zumindest sportlich. Vor dem Top-Spiel der 2. Fußball-Bundesliga am Samstag (20.30 Uhr/Sky und Sport1) sind die Rollen im Norden vertauscht: Hier der Tabellenführer von der Förde, dort der Verein mit großer Vergangenheit und dem erneuten Zittern um den Aufstieg in der Gegenwart.
Dass die KSV als Favorit im Nordduell gilt, wird in Kiel als Anerkennung für die geleistete Arbeit in der bisherigen Saison gewertet. Die Favoritenrolle annehmen will aber niemand. Viel lieber wird über die Vorfreude gesprochen.
"Grundsätzlich sage ich, wenn eine Mannschaft zum HSV ins Stadion fährt, dann ist der HSV Favorit. Egal bei welchem Spiel", sagte der neue Sportchef Carsten Wehlmann. Tabellarisch seien die Vorzeichen anders. "Trotzdem wird der HSV in 99 Prozent solcher Spiele der Favorit sein. Aber da haben wir keine Angst vor. Wir freuen uns auf das Spiel." Mittelfeldspieler Finn Porath, einer von drei Ex-HSVern neben Lewis Holtby und Fiete Arp im Holstein-Kader, spricht von einem "Highlight, dort zu spielen. Egal, ob wir Erster sind oder Zwölfter".
Holstein Kiel tritt aus dem Schatten
Der Verein bleibt bescheiden. Der deutsche Meister von 1912 hat nicht die Strahlkraft wie der Hamburger SV, auch nicht wie der FC St. Pauli. Das weiß jeder in Kiel. Dennoch: der Club wird inner- und außerhalb der Stadt mittlerweile neben Handball-Rekordmeister THW Kiel oder dem Segelfest "Kieler Woche" wahrgenommen.
"Damals gab es eigentlich nur den HSV. Auch hier in der Stadt und bei mir zu Hause auf dem Land gab es nur den HSV", erinnerte sich der gebürtige Eutiner Porath (27). "Da freue ich mich natürlich, dass jetzt auch einige mit Kiel-Trikots herumlaufen." Für die Menschen in Kiel sei es noch immer etwas Besonderes, "dass wir in der 2. Liga spielen".
Möglicherweise müssen sie sich bald schon an eine neue Liga gewöhnen. Sollte der Aufstieg gelingen, wäre das historisch: Noch nie spielte ein Verein aus Schleswig-Holstein in der Fußball-Bundesliga. Es wäre der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die vor 15 Jahren begann.
Neuer Sportchef Wehlmann als Zeitzeuge
Sport-Geschäftsführer Wehlmann ist Zeitzeuge für die Entwicklung der vergangenen anderthalb Jahrzehnte. Von 2009 bis 2018 war er Chefscout und Torwart-Trainer in Kiel, erlebte den Aufstieg aus der Regionalliga Nord in die 3. Liga und 2017 in die 2. Bundesliga. 2018 ging Wehlmann für fünf Jahre als sportlich Verantwortlicher zu Darmstadt 98 und stieg 2023 mit den Hessen in die Bundesliga auf. Im März kehrte der 51-Jährige zurück und arbeitet mit dem zum Saisonende freiwillig ausscheidenden Uwe Stöver zusammen.
"Infrastrukturell, gerade bei den Trainingsbedingungen, hat sich einiges getan, auch die Anzahl der Mitarbeiter hat sich erhöht", stellte Wehlmann nach seiner Rückkehr fest. "Sportlich hat man sich auch weiterentwickelt, seit ich weggegangen bin. Und das meine ich unabhängig von der derzeitigen sportlichen Situation."
Dass die Mannschaft fünf Spieltage vor dem Saisonende ganz oben in der Tabelle steht, war nicht zu erwarten. 16 Spieler hatten den Verein im Sommer verlassen, darunter Säulen wie Kapitän Hauke Wahl (FC St. Pauli) und Fabian Reese (Hertha BSC). Stöver blieb der Holstein-Philosophie treu und holte vor allem entwicklungsfähige Spieler.
Die Mischung macht's
Aus ihnen und erfahrenen Profis wie Ex-Nationalspieler Holtby (33) oder Torjäger Steven Skrzybski (31) formte Trainer Marcel Rapp eine Einheit. "Ich bin stolz, Teil dieses Teams zu sein", sagte Mittelfeld-Antreiber Holtby, in dessen Vita auch Clubs wie Schalke 04, VfL Bochum, Mainz 05 oder Tottenham Hotspur stehen. "Jeder einzelne, der dich morgens begrüßt, kommt mit Freude zum Fußball, hat Bock aufs Team."
Nach zuletzt fünf Siegen ohne Gegentor ist Kiel in der Pole-Position für den Aufstieg. Einen Punkt stehen die Kieler vor St. Pauli, sechs Zähler vor Fortuna Düsseldorf auf dem Aufstiegsrelegationsplatz und neun Punkte vor dem HSV. "Wir spielen sehr leidenschaftlichen Fußball, gepaart mit inhaltlichem Fußball. Ich glaube, das ist die Formel, warum wir dort stehen, wo wir stehen", erklärte Rapp (45), seit Oktober 2021 an der Förde.
Wehlmann sieht den Verein "natürlich" bereit für den (Aufstiegs-)Fall der Fälle. "Es werden alle Vorkehrungen getroffen, dass, wenn der Fall eintreten sollte, wir auch in der Liga spielen können." Der Verein habe gezeigt, dass er sich Stück für Stück entwickeln wolle. "In diesem seriösen und ruhigen Umfeld ist noch Perspektive und Potenzial."
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