Für news.de spannt Prof. Harald Lange den Bogen zwischen TV-Begeisterung und der ausbaufähigen Stimmung vor Ort. «Das Flair lässt sich nicht ebenso leicht aus dem Boden stampfen wie eine Wintersportlandschaft», sagt der Fanforscher.
Olympia 2014 in Sotschi ist ein Zuschauermagnet der besonderen Art. Kein anderes Ereignis findet weltweit mehr Interesse als die Liveübertragungen von Olympischen Spielen. Allein in Deutschland haben inzwischen weit mehr als 35 Millionen Zuschauer mindestens eine Übertragung am Fernseher verfolgt.
Die gegenwärtig sichtbar werdende Fankultur im Umfeld der Spiele von Sotschi ist nicht nur wegen der hohen Zahl, sondern auch wegen des breit gestreuten Interesses bemerkenswert. Die Faszination der Wettkämpfe vermag nach wie vor Millionen von Zuschauern in den Bann ziehen.
Die Dramaturgie des Gewinnens und Verlierens ist auch diesmal derart spannend und medial treffend inszeniert, dass im Finale der Rennrodler mit 9,2 Millionen TV-Zuschauern der diesjährige Rekord des Zuschauerinteresses beiARD und ZDF erreicht wurde.
Fans wollen kritische Olympia-Berichterstattung
Darüber hinaus werden aber auch andere Facetten der sich wandelnden Olympia-Fankultur sichtbar: Das öffentliche Interesse geht weit über die sportive Dimension der Wettbewerbe hinaus. Bereits im Vorfeld der Spiele wurden zahlreiche politische, gesellschaftliche oder ökologische Themen diskutiert. Die Einsicht, dass Sport politisch und olympischer Sport ein Spiegelbild weltweiter Problemlagen und Konflikte ist, findet in diesen Tagen nachhaltig Bestätigung.
Kritische Stimmen und Hintergrundrecherchen zum Problem der Homophobie, zu ökologischen Fehlentscheidungen, Menschenrechtsverletzungen, Korruption, sozialer Ungleichheit und Gigantonomie werden treffend und kontrovers in die mediale Aufbereitung und Begleitung der Spiele eingepflegt.
Durchaus im Interesse der Zuschauer und Olympiafans, die sich keineswegs auf die Rolle von Konsumenten des spannenden Wettkampfgeschehens reduzieren lassen. Im Gegenteil, plötzlich werden auch Themen aus Politik und Sportpolitik in einem Atemzug mit dem Wettkampfgeschehen diskutiert. Fans bilden sich eine Meinung und vertreten diese auch in zahlreichen Gesprächen am Arbeitsplatz, in der Straßenbahn oder Kneipe.
In Vancouver herrschte Olympischer Geist, in Sotschi fehlt Flair
Dass Fans zu so einem exponierten Ereignis zwingend dazugehören, lässt sich an der Stimmung ablesen, wie sie beispielsweise bei den Eishockeyspielen der russischen Mannschaft hör- und sichtbar wird. Gleichzeitig sind uns aber auch noch die Bilder und Eindrücke aus Vancouver im Gedächtnis. Dort waren die Wettkampfstätten nicht nur besser besucht, sondern die Stimmung war um einiges ausgeglichener. Nicht nur, weil deutlich mehr Zuschauer aus anderen Ländern nach Kanada angereist waren und für ein entsprechend buntes Bild auf den Rängen sorgten. Das kanadische Publikum fiel 2010 auch immer wieder durch Fairplay gegenüber den Konkurrenten seiner Sportler auf und hat damit tatsächlich so etwas wie einen Olympischen Geist geweckt und transportiert.
Auch Sotschi zeigt eindrucksvoll, dass Olympische Spiele ein weltweites Spektakel und Fest sein können. Dabei wird das Drehbuch Olympischer Spiele von der Dramaturgie der Wettkämpfe und den Leistungen der Athleten geprägt. Die besondere Atmosphäre der Spiele wird jedoch ganz maßgeblich von der Stimmung an den Wettkampfstätten und den Olympiafans getragen. Diese Einsicht ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit, deren Qualität jedoch keineswegs vom Himmel fällt.
Das Flair, in dem Olympische Spiele ausgetragen werden, lässt sich nicht ebenso leicht aus dem Boden stampfen wie eine Wintersportlandschaft. Es spricht also einiges dafür, dass dem Olympiafan künftig noch mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht werden muss.
Prof. Dr. Harald Lange ist Leiter des ersten deutschen Instituts für Fankultur, Würzburg & Frankfurt.
kru/news.de
Erfahren Sie hier mehr über die journalistischen Standards und die Redaktion von news.de.