Seit 20 Jahren lebt Isabel Stadnick in Pine Ridge, einem Indiandereservat der Lakota im US-Bundesstaat South Dakota. Mit news.de sprach die gebürtige Schweizerin über Klischees, die Indianerpolitik der amerikanischen Regierung und Heimatgefühle.
news.de: Rauchende Tipis im Sonnenuntergang, Friedenspfeifen und wilde Pferde: Wie viel Indianerromantik hat heute noch Platz in einem Reservat?
Stadnick: Jeder, der das erste Mal in ein Reservat kommt, ist enttäuscht. Es gibt zwar viele Pferde, die weite Prärie, sogar Tipis. Die werden aber nur noch für Feste und Zeremonien gebraucht.
news.de: Warum?
Stadnick: Das ist eine logische Folge der Zerstörung der Lebensräume der Indianer: Die Büffel wurden ausgerottet, damit gab es nicht mehr genug Felle für die Tipis. Deswegen leben die Lakota heute in Baracken oder Wohnwagen.
news.de: Also ist doch noch etwas übrig vom indianischen Nomadentum?
Stadnick: Die Wohnwagen sind zwar meist nicht zum Reisen da, aber es stimmt: Die Freiheitsliebe haben die Lakota im Blut. Das merkt man als Europäer sofort: Ein streng geregelter Tagesablauf zum Beispiel ist hier nicht üblich.
news.de: Welche Sprache wird im Reservat gesprochen?
Stadnick: Vor allem die Jugendlichen sprechen vorwiegend Englisch. Erst langsam besinnen sich die Lakota auf ihre eigene Sprache zurück. An den staatlichen Schulen ist Lakota aber nur ein Nebenfach. Dazu kommen ganz praktische Probleme: Wie unterrichtet man Mathematik auf Lakota, wo es kein Wort für «Million» gibt? Ab einer bestimmten Zahl ist Schluss und es heißt einfach «viele».
news.de: Sprechen Sie Lakota?
Stadnick: Ich lerne es gerade. Schwierig ist das vor allem wegen der ungewohnten Satzstellung und der vielen Dialekte. Es gibt sogar Unterschiede zwischen der Sprache der Männer und der der Frauen.
news.de: Wovon leben die Lakota im Reservat?
Stadnick: Etwa 85 Prozent der Menschen hier sind arbeitslos, im Winter sind es mehr als 90. Im Sommer kommen wenigstens Touristen, wenn auch nicht viele. Dann verkaufen die Menschen indianische Kunst. Ein Lakota hat jetzt sogar ein Motel aufgebaut, das im Sommer gut besucht ist. Aber wenn jemand Arbeit hat, dann muss er meist die ganze Familie versorgen. Es gibt verschiedene Sozialprogramme des Staates, manchmal helfen auch besser gestellte Verwandte. Aber insgesamt herrscht hier große Armut.
news.de: Wie gut sind die Bedingungen für Landwirtschaft?
Stadnick: Mehr als 40 Grad Celsius im Sommer und bis zu minus 30 Grad im Winter sind ein Problem, aber nicht das größte. Die größeren Felder gehören meistens weißen Farmern. Den Lakota fehlt das Geld für die Maschinen und Geräte, sie verpachten ihr Land lieber.
news.de: Wie stehen die Lakota-Indianer zu ihrem Leben im Reservat?
Stadnick: Es gibt zwei Aspekte: Zum einen sind die Reservate als Gefangenenlager entstanden und werden auch als solche heute noch immer negativ wahrgenommen. Andererseits gibt es eine Trotzhaltung gegenüber den Stadtindianern, die oft auf die Reservatindianer herabblicken. Die Lakota in Pine Ridge sagen: Hier haben wir wenigstens noch ein Stück Freiheit, Platz für unsere eigene Lebensweise. Hier kann die Familie zusammenbleiben.
news.de: Trotzdem leben heute mehr als die Hälfte der Indianer in den USA in Städten.
Stadnick: Viele junge Leute versuchen, eine bessere Ausbildung zu bekommen und eine bessere Arbeit. Manchmal bleiben sie weg, oft kommen sie zurück. Einige um zu helfen, einige, weil es draußen nicht geklappt hat.
news.de: Warum?
Stadnick: Rassismus ist ein großes Problem. In den Bundesstaaten, in denen die meisten Reservate sind, ist er besonders groß. Meine Tochter wurde in eine Prügelei verwickelt, weil sie mit Lakotajugendlichen gesprochen hat. Sowas passiert immer wieder. Es reicht schon, zu sagen, man wohne in einem Reservat. Die Reaktion der Leute ist eindeutig, es gibt viele Vorurteile.
news.de: Zum Beispiel, dass viele Indianer alkoholabhängig seien.
Stadnick: Dieses Problem gibt es. Einige Lakota besorgen sich Alkohol, sobald sie ein paar Dollar zusammen haben. Auch viele Jugendliche trinken, obwohl Alkohol im Reservat verboten ist und man schon ins Gefängnis kommen kann, wenn man mit einer Flasche Whisky gesehen wird. Für die Jugendlichen gibt es hier aber nichts anderes, sie langweilen sich.
news.de: Ist das Alkoholverbot ein Lakota-Gesetz?
Stadnick: Die Stammesregierung könnte es aufheben, aber das ist sehr umstritten. Viele traditonelle Lakota halten Alkohol für etwas sehr Böses.
news.de: Wie stehen die Lakota-Indianer zu den USA und deren Regierung?
Stadnick: Das Verhältnis ist sehr distanziert. Viele Versprechen, die mit dem Beginn der Reservation im 19. Jahrhundert gemacht wurden, wurden bis heute nicht eingehalten. Damals hieß es, es gebe in den Reservaten gute Schulen, gute medizinische Versorgung, gutes Essen. Heute sind die Schulen und medizinischen Einrichtungen schlecht, frisches Essen gibt es kaum. Die Diabetes-Rate liegt bei mehr als 50 Prozent.
news.de: In der Vergangenheit gab es zwischen den Amerikanern und der Regierung auch oft Streit um Landesgrenzen.
Stadnick: Den gibt es immer noch, gerade um die Gebiete in den Black HillsDie Black Hills sind eine Bergkette im Westen von South Dakota. Für die Lakota ist das Gebiet heilig. In einem Vertrag von 1868 wurde ihnen das Gebiet von der US-Regierung zugesprochen. Aber nach den Goldfunden wenige Jahre später wurden sie zur Abtretung des Landes gezwungen. Noch heute wird gerichtlich um die Berge getritten, in dem sich auch die in den Stein gehauenen Präsidentenköpfe (Mount Rushmore) befinden. . Die in Verträgen festgeschriebenen Grenzen werden seitens der Regierung nicht eingehalten. Der Oberste Gerichtshof hat zwar schon Anfang der 1980er Jahre eingeräumt, dass der Landraub an den Indianern der größte in der amerikanischen Geschichte gewesen sei. Geändert hat sich dadurch aber nichts. Die Regierung hat Geld für das rohstoffreiche Land geboten, das wurde von den Indianern aber nicht angenommen. Schließlich stand ihr Land niemals zum Verkauf.
news.de: Für wen haben die Lakota bei der vergangenen Präsidentschaftswahl gestimmt?
Stadnick: Gewählt haben nur sehr wenige. Einerseits passt dieser Gedanke, dass ein ganzes Volk seinen Präsidenten wählt, nicht in die Tradition und die Lebensweise der Lakota. Anderserseits sind viele resigniert, denken, es ändere sich sowieso nichts. Die, die gewählt haben, wählten fast alle Obama.
news.de: Gibt es da eine ähnlich hoffnungsvolle Aufbruchsstimmung wie im Rest des Landes?
Stadnick: Es gibt eine leise, abwartende Hoffnung. Unter der Bush-Regierung ist für die Menschen hier vieles schlechter geworden, so wurden einige Sozialleistungen gekürzt. Aber euphorisch sind die Lakota jetzt nicht. Sie erwarten nicht viel von Amerika.
news.de: Warum haben Sie sich persönlich entschieden, zu bleiben?
Stadnick: Natürlich habe ich hier meinen Mann kennengelernt, aber auch jetzt, wo er tot ist, würde ich nirgendwo anders leben wollen. Das hier ist meine Heimat.
news.de: Wie wurde Ihre Hilfe durch die Lakota aufgenommen?
Stadnick: Es ist nicht so, dass ich als Schweizerin hier her gekommen bin und gesagt habe: Ich helfe euch jetzt, ich weiß, wie das geht. Diese arrogante Haltung ist ein Problem. Hilfe, die so an die Indiander herangetragen wird, hilft nicht wirklich lange. Ich habe zusammen mit den Lakota über Verbesserungen gesprochen und diese umgesetzt.
news.de: Warum haben Sie sich dabei auf den Bildungsbereich konzentriert?
Stadnick: Ich denke, wenn man für die Indianer nachhaltig etwas verbessern will, muss man bei den Kindern anfangen. Es war schockierend für mich zu sehen, wie wenig sie hier die Chance auf ein besseres Leben haben. Viele kommen schon morgens betrunken zum Unterricht, die Hälfte von Ihnen bricht die Schule ab. Das amerikanische Schulsystem wurde den Lakota aufgedrängt, alle Verbesserungen, die man innerhalb dieses System versucht hat umzusetzen, funktionieren nicht. Die Mentalitäten passen nicht zusammen.
news.de: Was konnten Sie mit Ihrer Arbeit bis heute bewirken?
Stadnick: Bisher ist die Lakota-Waldorfschule, die wir 1993 gegründet haben, nur ein Kindergarten. Wir hören nur Gutes von Eltern, die ihre Kinder zu uns schicken. Wir pflegen Traditionen, gehen oft in die Prärie, bereiten Büffelfleisch zu und haben ausschließlich klassisches Holzspielzeug. Oft kommen Studenden vom Oglala Lakota College hier im Reservat und erzählen alte Geschichten und Legenden auf Lakota. Es ist eine Freude, wie fröhlich und glücklich die Kinder darüber sind, das alles hier machen zu können.
news.de: Woher bekommen Sie Unterstützung?
Stadnick: Bei uns ist alles klein und hausgestrickt. Alle, auch in unseren Büros in Europa, arbeiten ehrenamtlich. Die Spenden kommen meist in kleinen Summen von Privatleuten, selten aus Amerika, meistens aus Europa. Der Kindergarten bräuchte 100.000 Dollar im Jahr – das ist bisher nur ein Ziel.
news.de: Welche Ziele haben Sie für das neue Jahr?
Stadnick: Ich will um Unterstützung aus den USA werben und mich darum kümmern, welche Hilfen von Stiftungen und Ähnlichem wir beantragen können. Ich hoffe, wir können im Sommer zum ersten Mal eine 1. Klasse unterrichten.
news.de: Aber vor Jahresende steht zunächst der Big Foot RittBig Foot hieß der Häuptling der Indianer, die 1890 bei Wounded Knee von US-Soldaten massakriert worden. Beim jährlichen Big Foot Ritt Ende Dezember machen sich Indianer verschiedener Stämme auf, um die gleiche Strecke nach Wounded Knee zu reiten, wie ihre getöteten Vorfahren. So soll dem Geschehenen gedacht werden. an.
Stadnick: Ja, das ist eine ganz wichtige Tradition. Das ist die Art der Indianer, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Solche Vergleiche sind immer schwierig, aber eine ähnliche Aufarbeitung wie die der Geschehnisse in Deutschland während der Nazizeit gibt es in den USA nicht. Wounded Knee wird in in amerikanischen Schulbüchern noch nicht einmal als das Massaker bezeichnet, welches es war. Da ist immer die Rede von einer Schlacht.
Die aus der Schweiz stammende Isabel Stadnick entschied sich auf einer Reise in das Pine Ridge Reservat 1989 dort zu bleiben, heiratete den Lakota Bob Stadnick und baute in den folgenden Jahren zusammen mit anderen Lakota-Familien die Lakota-Waldorf-Schule auf. Im Juni 2008 gründete sie die Lakotastiftung und wirbt mit engagierten Mitarbeitern um Spenden, die den Lakota-Kindern bessere Zukunftschancen ermöglichen sollen.
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