Hunderte Mordfälle in Deutschland sind schätzungsweise noch ungeklärt. Polizisten nennen sie "Cold Cases". Dem Braunschweiger Oberkommissar Holger Kunkel lassen sie bis heute keine Ruhe.
Holger Kunkel holt die Vergangenheit jeden Morgen bei Dienstbeginn ein. Wenn der Oberkommissar in der Polizeidirektion Braunschweig seine Jacke an die Garderobe hängt, so erzählt er es, blickt er auf das Regal mit Akten von rund 15 noch immer ungelösten Mordfällen. "Cold Cases" heißen diese oft Jahrzehnte lang offenen Taten. Bundesweit gibt es Schätzungen zufolge Hunderte - und die Arbeit an ihnen fordert Ermittler und Justiz.
Kunkel lassen die alten Fälle neben dem Alltagsgeschäft keine Ruhe. Der 58-Jährige erinnert sich noch gut, wie er etwa 2005 einen inzwischen wegen zwei Sexualmorden im Jahr 1981 verurteilten Mann überführen konnte: "Als wir mit ihm in Richtung Vienenburg fuhren, konnte ich sehen, wie seine Halsschlagader pulsierte", erzählt er. Die Ermittler brachten den Täter an die damaligen Schauplätze seiner Verbrechen in Niedersachsen - einen alten, orangefarbenen Audi inklusive. In solch einem Wagen hatte der Mann eines seiner Opfer mitgenommen.
Bislang keine zentrale Erfassung und Bearbeitung von "Cold Cases" in Deutschland
Zentral erfasst oder bearbeitet werden "Cold Cases" laut Bundeskriminalamt nicht - Ländersache. Die Aufklärungsquote für Mord liegt den Polizeistatistiken zufolge seit Jahren aber bei gut 95 Prozent. Das heiße im Umkehrschluss, rechnet der Wiesbadener Kriminalpsychologe Rudolf Egg vor: Von den bundesweit etwa 300 als Mord identifizierten Todesfällen pro Jahr, blieben 10 bis 20 ungelöst. Über die Jahre hinweg hätten sich so Hunderte angesammelt - die gar nicht erst erkannten Fälle nicht eingerechnet.
Egg geht unter Berufung auf den Münsteraner Rechtsmediziner Bernd Brinkmann sogar davon aus, dass bis zu 50 Prozent aller Morde nicht aufgedeckt werden: "Es gibt Verkehrsunfälle, wo man dann feststellt, er war alkoholisiert oder die Straße vereist, aber vielleicht hatte jemand auch die Bremsen manipuliert", nennt Egg als Beispiel.
Bei den zwei Toten in Kunkels Fall gab es keine Zweifel an einem Verbrechen. Ein Prozess zu solch einem jahrzehntealten Fall sei für die Justiz dennoch schwierig, weiß Kriminologe Egg: "Nach so langer Zeit hat man seine eigene Version gefunden, die man immer weitererzählen kann", sagt er etwa zur Erinnerung von Tätern und Angehörigen.
Angehörige der Opfer leiden Höllenqualen - zum Teil seit Jahrzehnten
Besonders betroffen sei die Opferseite. Angehörige, fordert Egg, sollten die zum 1. Januar 2017 eingeführte psychosoziale Prozessbegleitung wahrnehmen. In Kunkels Zweifach-Mörder-Fall gab es das noch nicht. Der Vater des zweiten Opfers, dem seine einzige Tochter genommen wurde, musste alleine vor Gericht aussagen. "Wie soll es mir gehen, eigentlich müsste ich jetzt mit Enkeln im Garten sitzen", hätte dieser, erinnert sich der Polizist, damals gesagt.
Die alten Wunden zu öffnen, sei "nicht sofort eine Entlastung", weiß auch Egg. Im Endeffekt, wenn der Täter hinter Gitter kommt, könnten Angehörige die Tat aber meist besser verkraften.
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Hunderte unaufgeklärte Mordfälle in DeutschlandSeite 1
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- Verjährungsfristen - nicht bei Mord Seite 3
- Chronologie: "Cold Cases" in Deutschland Seite 4