Was ist das eigentlich, Jungfrau sein? Für viele Muslime bedeutet es Blut in der Hochzeitsnacht. Manche Frauen lassen sich das Jungfernhäutchen deshalb wieder herstellen. Aber auch im Westen schwelt der Mythos Jungfrau weiter - In Kirche und Pornoindustrie.
Das Jungfernhäutchen kann beim Sport reißen. Manche Frauen haben gar keins. Und bei anderen bleibt es trotz Geschlechtsverkehr ganz. Mit «Jungfrau sein» hat das wenig zu tun. Dennoch titelte die Bild-Zeitung am vergangenen Montag: «Ich habe 400 Frauen zu Jungfrauen gemacht!»
Der dort zitierte Chirurg aus Düsseldorf hat sich auf die Wiederherstellung des Hymens, des Jungfernhäutchens, spezialisiert - ein Eingriff, den hierzulande fast ausschließlich muslimische Mädchen und Frauen durchführen lassen. Auch der plastische Chirurg Paul Edelmann aus Frankfurt gehört zu den wenigen Ärzten in der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie, die diese Operation beherrschen und durchführen. Er lebte eine Zeit lang in Dubai. «Da kamen viele. Allerdings ist es in den Vereinigten Arabischen Emiraten verboten, was ich damals nicht wusste. Dort gilt das quasi als Urkundenfälschung.»
Tatsächlich ist das Jungfernhäutchen für gläubige Muslime eine Art Urkunde. Auch, wenn es praktisch nicht stimmt, gilt es dem Ehemann als Garantie, dass seine Frau zuvor noch keinen Geschlechtsverkehr hatte. Es muss bluten in der Hochzeitsnacht, sonst kann es soweit kommen, dass der Mann die Frau zurückgibt und damit die Ehre ihrer gesamten Familie besudelt.
Das allerdings kann auch Edelmann nicht verhindern. «Es ist nach der Operation alles wie vorher, aber dass es blutet, darauf kann man sich nicht verlassen.» Für ihn ist der Eingriff reines Handwerk, er behandele nur erwachsene Frauen. Den Islam könne er nicht ändern. 2000 Euro kostet das geflickte Hymen bei ihm. Die Frauen kommen meist allein und wirken auf ihn ganz relaxt, wie er sagt: «Als ob sie zum Friseur gehen.»
Künstliches Hymen für 37,50 Euro
Dass die Thematik Jungfernhäutchen für junge Musliminnen alles andere ist als eine Frisur, erlebt Christina Schneider immer wieder. Die Ärztin berät bei Profamilia Frauen, die Jungfrau sein müssen, es aber nicht mehr sind. Ein Thema, zu dem sie zwei Meinungen hat - die politische und die praktische, wie sie es nennt: «Eigentlich sollte es für keine Frau mehr notwendig sein, mit einem Mann Kontakt zu haben, der von ihr verlangt, Jungfrau zu sein oder ein intaktes Jungfernhäutchen zu haben.» Aber weil sie weiß, dass im Islam eigene Regeln gelten, und weil es ihr wichtig ist, andere Kulturen zu respektieren, verurteilt sie die Operationen nicht grundsätzlich. Allerdings bemüht sich Profamilia , Ärzte zu finden, die nur 200 Euro dafür abrechnen.
Und sie raten den Frauen zu Alternativen. Durch die Pille die Regel so zu timen, dass sie in der Hochzeitsnach bluten oder sich selbst eine kleine Verletzung zufügen sind solche Möglichkeiten. Auch ein künstliches Jungfernhäutchen ist inzwischen im Internet zu haben, unter dem unverdächtigen Titel «Virginia Care». Verkauft wird es in einer blumigen, rosafarbenen Verpackung, die bei Männern keinen Verdacht erregt, wie eine Mitarbeiterin erklärt. Seit anderthalb Jahren bieten sie das winzige Häutchen aus steriler Zellulose mit getrocknetem Rinderblut an, etwa 400 Stück hat die Firma seitdem für 37,50 Euro verschickt - in schlichten Umschlägen ohne Absender. Auf Werbung verzichtet die Firma. Virginia Care will keine Aufmerksamkeit erregen.
Warum auch hierzulande der Mythos Jungfrau lebt
Für die Ärztin Christina Schneider ist die Jungfräulichkeit ein Mythos - und zwar ein sehr komplexer. Genau so, Mythos Jungfrau, hat die deutsch-britische Kulturwissenschaftlerin Anke Bernau ihr Buch genannt. Darin geht es allerdings nicht um Muslime. Denn auch junge Frauen im westlichen Kulturkreis sind vom Zwang der Jungfräulichkeit nicht frei, betont die junge Autorin. «Es ist ein Doppelzwang. Zum einen geht es darum, dass man sie verliert, weil es sonst nicht cool ist, zum anderen ist man aber sehr schnell verrufen im Freundeskreis.»
Dass manch 16-jähriges Mädchen einen Komplex mit sich herumträgt, weil sie noch Jungfrau ist, können viele Erwachsene nur belächeln. Für die Jugendlichen aber ist es ein Problem, das wie ein Klotz auf ihrem Selbstbewusstsein lastet. Das erste Mal sei ein wichtiger Punkt in jeder Lebensgeschichte, sagt Anke Bernau. Dabei ist vielen gar nicht klar, was es eigentlich bedeutet. Sie stellt das immer wieder fest, wenn sie ihre Studenten fragt. «Da herrscht lange Schweigen, bis jemand etwas vom ‹Jungfernhäutchen› sagt. Sie denken, es wäre ein körperlicher Zustand. Ich erkläre dann, dass es eigentlich gar nicht festgestellt werden kann. Das Konzept zerfällt, wenn man anfängt, es auseinander zu nehmen. Zum Beispiel bei der Frage, ob man nach Analverkehr noch Jungfrau ist.»
Die vielen Schichten der Jungfräulichkeit
Schon immer hatte der Mythos Jungfrau viele Schichten. Hinter der christlichen Jungfräulichkeit zum Beispiel steckt die Idee, dass der Mensch sich so ganz und gar Gott und sich selbst widmen kann. Zugleich ist die Jungfräulichkeit der Frau jedoch eine Forderung der patriarchalischen Gesellschaft: «Es ging darum, die Frau zu kontrollieren und sicher zu gehen, dass sie einem Mann gehört. Dazu kommt eine Angst vor der weiblichen Sexualität als etwas Unkontrollierbares», sagt Bernau.
So schwelt der dubiose Reiz des Jungfrau-Seins weiter - an so entgegengesetzten Polen wie der Kirche und der Pornoindustrie. Da bemühen sich radikal-christlichen Gruppen wie «Wahre Liebe Wartet», sie wieder als Ideal zu propagieren, auch für Jungs. «Auf der anderen Seite üben unberührte Mädchen in der Pornografie einen großen Reiz aus. Soziologen, mit denen ich spreche, sagen, dass die Mädchen, die als ‹Jungfrauen› bezeichnet werden, immer jünger sind.» Anke Bernau kennt auch Fälle von Frauen aus den USA, die sich das Jungfernhäutchen richten oder sogar die Vagina verengen lassen, damit es sich für ihre Männer anfühlt wie beim ersten Mal.
Die Kulturwissenschaftlerin findet es trügerisch, wenn die westliche Kultur im Vergleich zur muslimischen als «frei» dargestellt wird - und Frauen sich dennoch unter Druck setzen, um «ein Modell wie im Pornoheft» zu sein, wie sie es ausdrückt: «Was ist das für eine Freiheit, frage ich mich.»
cvd/news.de
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