Mord ist ihr Hobby: News.de wollte wissen, wie viele Morde in Deutschland ungeklärt sind. Die Zahl ist erschreckend hoch - und könnte noch viel höher sein. Denn die Statistik trügt.
Ein kleiner Körper, verschnürt in einem blauen Plastiksack. So wurde die zehnjährige Adelina im Oktober 2001 in einem Wald bei Bremen gefunden. Drei Monate lang wussten die Eltern nicht, was mit ihrem Mädchen geschehen war, nachdem es Ende Juni auf dem Rückweg von ihrem Großvater zu Hause nicht wieder ankam. Die Polizei geht von einem Sexualverbrechen aus, Adelinas Rock muss der Täter mitgenommen haben.
Nur wenige Jahre zuvor: Tristan ist 13, als sein Leben Ende März 1998 ein jähes Ende findet. Brutal zugerichtet und verstümmelt finden ihn Kinder in einem Tunnel in der Nähe eines Frankfurter Bahnhofs. Vom Täter fehlt bis heute jede Spur.
Die Fälle von Tristan und Adelina zeigen: In Deutschland kommen nach wie vor Mörder ungestraft davon, ihre Taten werden auch Jahre später nicht aufgeklärt. 703 Mordfälle oder -versuche weist das Bundeskriminalamt (BKA) in seiner aktuellen Kriminalstatistik für 2009 aus. Bei 665 konnten Beamte die Täter entlarven - das entspricht einer Aufklärungsquote von 94,6 Prozent. Die restlichen 38 Fälle gehen als ungeklärt in die Statistik ein.
Jedes Land hat seine eigene Statistik
News.de hat bei allen Landeskriminalämtern und Innenministerien nachgefragt und Zahlen zusammengetragen. Seit 1990 sind in Deutschland demnach mindestens 771 Morde und Mordversuche unaufgeklärt geblieben. Allerdings ist die wirkliche Zahl noch viel höher. Denn viele Bundesländer haben keine Statistik, die 20 Jahre zurück reicht. Die Zahlen des Bundeskriminalamtes sind aussagefähiger. Demnach haben sich 18.500 versuchte und vollendete Morde in dem Zeitraum angesammelt. Laut veröffentlichter Aufklärungsquote sind mindestens 1300 von ihnen bislang ungeklärt. Auf die vergangenen 20 Jahre gerechnet macht das 1,2 Mordfälle pro Woche, bei denen die Polizei bis heute keinen Täter gefasst hat.
Doch auch diese Zahl ist nur die halbe Wahrheit. Denn die einzelnen Bundesländer erstellen zwar jährliche Kriminalstatistiken nach einheitlichen Kriterien. Verschiedene Faktoren verfälschen jedoch die Ergebnisse. So gebe es zwar Daten über geklärte und ungeklärte Mordfälle der einzelnen Jahre, heißt es beispielsweise beim Bayerischen Innenministerium. Über einen festgesteckten Zeitraum - in diesem Fall die vergangenen 20 Jahre - würde das Ergebnis aber verzerrt, weil etwa auch Fälle in die aktuelle Statistik als «geklärt» einfließen, die vor mehr als 20 Jahren passiert sind.
Rudolf Egg, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, gibt außerdem zu bedenken: «Rechtsmediziner haben vor einigen Jahren in einer Studie festgestellt, dass nur jeder zweite Mord aufgedeckt wird. Aufgedeckt meint, dass überhaupt bekannt wird, dass ein Mord geschehen ist.» Denn immer wieder gebe es Todesfälle, die auf den ersten Blick nicht auf einen Mord hindeuten, sich nach einer Obduktion jedoch als ein solcher herausstellen.
Ein weiteres Problem: Die Statistiken der neuen Bundesländer sind in den Jahren zwischen 1990 und 1993 nicht sehr aussagekräftig, weil es dort nach der Wiedervereinigung «Wichtigeres zu tun gab bei der Polizei, als eine ordentliche Kriminalstatistik zu führen», sagt Egg.
Hessen blutrünstiger als Sachsen-Anhalt?
Und auch nach 1993 lässt sich ein Vergleich zwischen den Bundesländern nur schwer ziehen. Denn die Hessische Kriminalstatistik zählt zwar mit 158 ungeklärten Tötungsdelikten und Versuchen seit 1990 wesentlich mehr Fälle als Sachsen-Anhalt, wo sich in dieser Zeit 57 Fälle sammelten. Dafür leben in Hessen auch zweieinhalb mal so viele Menschen. Abhilfe schafft in diesem Fall die sogenannte Häufigkeitszahl, ein Prozentsatz, der die Zahl der Straftaten auf 100.000 Einwohner bezieht und die Kriminalfälle der Bundesländer somit vergleichbar macht (siehe Grafik).
Dabei lässt sich laut Egg feststellen, dass vor allem in Ballungszentren wie Berlin, Bremen oder Hamburg Schwerverbrechen häufiger auftreten als in ländlichen Gegenden. Zwar könne auch auf dem kleinsten Dorf mal ein Mord geschehen, aber in Großstädten gebe es mehr Tatgelegenheiten, mehr persönliche und geschäftliche Auseinandersetzungen, so der Experte. Denn bei Mord handele es sich laut Egg überwiegend um Beziehungsdelikte. «Das sind keine Überfälle von Fremden auf Fremde, sondern hat häufig etwas mit den Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu tun.»
Insgesamt zeigen die Statistiken, dass die Zahl der Morde in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist. «Je mehr junge Menschen es in einer Gesellschaft gibt, desto mehr Gewaltstraftaten gibt es auch erfahrungsgemäß», sagt Egg. «Das gilt weltweit, da Gewalt primär eine Sache von jungen Männern ist.» Weil in Deutschland jedoch immer mehr alte Menschen leben, gehen die Zahlen bei den Gewaltdelikten nach unten.
Auch im europäischen Vergleich ist die Zahl von Morden «unterdurchschnittlich», sagt Frank Neubacher, Direktor des Instituts für Kriminologie an der Universität Köln, und verweist auf einen entsprechenden Bericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2006. Mit einer Häufigkeitszahl von 0,7 Todesfällen je 100.000 Einwohner liegt Deutschland zusammen mit Norwegen und Island auf sehr niedrigem Niveau. Länder wie die Russische Föderation (29,9), Estland (15,2), Lettland (12,3) und Albanien (7,2) führen die Liste an. Und auch unsere unmittelbaren Nachbarn Frankreich (0,8), Italien (1), die Schweiz (1,1) und Polen (1,7) weisen eine höhere Häufigkeitszahl auf.
Mord verjährt nicht
Bei der Aufklärung der Fälle liegt Deutschland ebenfalls gut. Die Quote beträgt derzeit etwa 95 Prozent. Vergleichsweise sei die Lage laut Neubacher hierzulande also wenig dramatisch. Dennoch: 1300 ungeklärte Mordfälle fallen neben mehr als 17.000 geklärten Fällen in einer Statistik vielleicht nicht allzu sehr ins Gewicht. Sie bedeuten aber dennoch 1300 Opfer, deren Täter möglicherweise noch frei herumlaufen. Und nicht zuletzt bedeuten sie auch 1300 tragische Einzelschicksale.
Die Polizei arbeitet deshalb weiter an der Aufklärung jedes einzelnen Falles: «Da eine Mordtat strafrechtlich nicht verjährt, kann sie auch noch nach Jahren aufgeklärt werden und erst dann in die Statistik der Polizei eingehen», sagt der Sprecher des Innenministeriums Sachsen-Anhalt, Klaus Peter Knobloch.
Vor allem die in den 1980er Jahren entwickelten DNA-Analysen können heute Fälle aufklären, bei denen die Spuren früher in eine Sackgasse führten. Und auch das Internet kann helfen: So beispielsweise im Fall des kleinen Tristan, der 1998 ermordet wurde. Auf den Internetseiten des BKA finden sich Infos zum schrecklichen Tathergang, die neuesten Erkenntnisse und sogar ein Phantombild des möglichen Täters. Bleibt zu hoffen, dass auch dieser Fall bald als «geklärt» in die Statistik eingeht.
Bundesland |
ungeklärte Mordfälle | Zeitraum |
Baden-Württemberg | 19 (inkl. Versuche) | 2005 bis 2010 |
Bayern | 3 (inkl. Versuche) | 2000 bis 2009 |
Berlin | 183 (inkl. Versuche) | 1990 bis 2010 |
Brandenburg | 26 | 1996 bis 2010 |
Bremen | 23 (inkl. Versuche) | 2005 bis 2010 |
Hamburg | 74 | 1997 bis 2009 |
Hessen | 158 (inkl. Versuche) | 1991 bis 2010 |
Mecklenburg-Vorpommern | 31 (inkl. Versuche) | 1992 bis 2010 |
Niedersachsen | 10 (inkl. Versuche, Mord und Totschlag) |
2000 bis 2009 |
Nordrhein-Westfalen | 51 (inkl. Versuche) | 2002 bis 2009 |
Rheinland-Pfalz | 82 (inkl. Versuche) | 1990 bis 2009 |
Saarland | 8 | 1990 bis 2010 |
Sachsen | 1 (inkl. Versuche) | 2000 bis 2009 |
Sachsen-Anhalt | 57 (inkl. Versuche) | 1991 bis 2010 |
Schleswig-Holstein | 45 | 1990 bis 2010 |
Thüringen | keine Zahlen vorliegend |
bjm/news.de