Wenn es um Gefängnisse in der DDR geht, denken viele Menschen zuerst an einen Stasi-Knast. Doch die Facetten des DDR-Strafvollzuges waren vielfältiger. Der Historiker Marcus Sonntag beleuchtet im Interview mit news.de das Dunkel der DDR-Haftarbeit.
Herr Sonntag, täuscht der Eindruck oder liegt die Geschichte der Haftarbeit in der DDR wirklich noch im Dunkeln?
Sonntag: Nein, der Eindruck täuscht nicht. Da liegt noch vieles im Dunkeln. Sowohl in den alten wie auch in den neuen Bundesländern herrscht hier weitgehende Unwissenheit. Insbesondere die Existenz von Arbeitslagern in der DDR ist vielen unbekannt.
Warum?
Sonntag: Im Zentrum der DDR-Vergangenheitsbewältigung stand zunächst vor allem der monströse Stasi-Apparat. Allerdings mischte auch die Stasi bei der Haftarbeit mit. Der Sicherheitsdienst beschäftigte selbst Haftarbeiter, zum Beispiel im «Lager X» in Berlin-Hohenschönhausen. Dort konstruierten besonders qualifizierte Haftarbeiter unter anderem Spionagetechnik – Autos mit automatisch wechselnden Nummernschildern beispielsweise. Erst nach und nach kamen andere Repressionsinstitutionen in den Blick. Und da schaute man meist zuerst auf die Schicksale der sogenannten politischen Häftlinge. Der normale Strafvollzug blieb oft außen vor, genauso wie die Untersuchung der Dimensionen der Haftarbeit.
Wie war Haftarbeit in der DDR organisiert?
Sonntag: Viele Betriebe setzten Haftarbeiter entweder direkt in ihren Fabrikationshallen ein oder ließen innerhalb der Haftanstalten produzieren. Zudem ließ die SED-Führung sogenannte Haftarbeitslager direkt bei wirtschaftlich sehr wichtigen Betrieben errichten. Die Lager befanden sich auch in Rechtsträgerschaft der Betriebe. Geregelt wurde das über Verträge mit der Strafvollzugsbehörde.
Was wollte man damit bezwecken?
Sonntag: Haftarbeit in der DDR hatte vor allem wirtschaftliche Hintergründe: Von Anfang an fehlten Arbeitskräfte in Ostdeutschland. Und eben weil der Bedarf an Arbeitskräften so groß war, wuchsen die Haftarbeitslager in den 1950er Jahren fast schon wild und unkontrolliert in der ganzen DDR. Vorwiegend wurde die Haftarbeiter im Bergbau, in der Eisen- und Stahlproduktion oder in Werften eingesetzt, aber auch in Steinbrüchen oder beim Flughafenbau, zum Beispiel in Schkeuditz. Aus verschiedenen Gründen wurden die Lager ab 1963 in Strafvollzugskommandos umbenannt, und ab 1975 hießen dann alle einheitlich Strafvollzugseinrichtung. Für die war in der DDR übrigens nicht das Justizministerium, sondern das Innenministerium zuständig.
Lässt sich der Umfang der Haftarbeit in Zahlen beschreiben?
Sonntag: Schlaglichtartig, ja. Im Jahr 1962 gab es in der DDR 21 Haftarbeitslager. Dort waren zu diesem Zeitpunkt rund 8000 Personen inhaftiert. Dazu kamen noch die Arbeitserziehungskommandos, in denen seit 1961 als «arbeitsscheu» und «asozial» geltende Menschen inhaftiert waren. Davon gab es 1962 fünf mit etwa 1000 Insassen. 1964 arbeiteten insgesamt rund 15.000 Strafgefangene für 174 volkseigene Betriebe. «Erziehung durch Arbeit» war im Allgemeinen eine der Hauptaufgaben des sozialistischen Strafvollzuges. Nicht nur die ökonomische, sondern auch die vermeintlich erzieherische Funktion der Haftarbeit sollte den massiven Einsatz von Häftlingen in der Produktion legitimieren.
Unter welchen Bedingungen die Menschen in den Lagern lebten
Wenn in den Arbeitserziehungskommandos «Arbeitsscheue» und «Asoziale» saßen – wer wurde in gewöhnlichen Haftarbeitslagern inhaftiert?
Sonntag: Allgemein saßen in Haftarbeitslagern Straftäter mit kürzeren Haftstrafen, also Leichtverbrecher; aber auch politische Gefangene. Die Vorstellung, dass dort Schwerverbrecher einsaßen, die im Steinbruch für den Rest ihres Lebens Steine klopften, ist völlig falsch. Das lag schon daran, dass die baulichen Gegebenheiten eines Lagers oft weniger Sicherheit boten als feste Einrichtungen. Die Häftlinge waren meist völlig in die Betriebsabläufe der Unternehmen integriert, bekamen etwa ihr Essen von den Betriebskantinen. Und damit waren die Fluchtmöglichkeiten auch besser. Allerdings gab es Zeiten, in denen die Nachfrage nach Haftarbeitern so groß war, dass man weniger sensibel auswählte. Es ist vielleicht ein wenig überspitzt ausgedrückt, aber man kann schon fast sagen: In den 1950er Jahren wurde nahezu jeder Häftling in den Bergbau gesteckt, der dazu körperlich in der Lage war.
Wie waren die Bedingungen, unter denen die Menschen in den Lagern lebten?
Sonntag: Ich hatte es schon angedeutet: In einem Haftarbeitslager seine Strafe zu verbüßen, kam in vielen Fällen eher einer Hafterleichterung gleich. Gespräche mit ehemaligen Haftarbeitern bestätigen das. Auch wenn das immer sehr stark vom Einzelfall abhing, kann man schon sagen: Viele saßen lieber in einem Haftarbeitslager als im normalen Vollzug ihre Strafe ab. So waren die sanitären Anlagen und hygienischen Bedingungen teilweise besser, weil viele der Lager erst nach 1949 gebaut wurden und nicht so abgenutzt waren wie die oft wesentlich älteren Gefängnisse. Des Weiteren fiel die Entlohnung der Gefangenen für die anstrengende und gefährliche Arbeit höher aus als anderswo. Die bessere Behandlung der Häftlinge in den Lagern lag zudem wahrscheinlich daran, dass man einfach auf ihre Arbeitskraft angewiesen war. Im Übrigen wurde das von der Volkspolizei, die die Lager betrieb, ganz genauso gesehen. Eine Rückverlegung in den normalen Vollzug wurde als Disziplinierungsmaßnahme, ja als Strafe verstanden.
Sie haben es schon angesprochen: Der Gedanke «Erziehung durch Arbeit» spielte im DDR-Strafvollzug eine große Rolle, jedenfalls in der Theorie...
Sonntag: Im Strafvollzug war der Gedanke von einer möglichen Erziehung des Menschen durch Arbeit omnipräsent. Das ist aber kein DDR-spezifisches Phänomen. Diese Idee, dass man Menschen durch Arbeit erziehen und sogar bessern kann, ist seit dem späten 18., frühen 19. Jahrhundert weit verbreitet. Und deshalb spielte das auch immer wieder in der Schulerziehung eine große Rolle, unter anderem auch in der DDR. Aber nicht allein die Arbeit sollte edukativ wirken, sondern auch Bildungsmaßnahmen. Doch so wichtig diese Ideen auch in der Theorie waren, so sehr wurde der Tagesablauf im DDR-Strafvollzug oft durch wirtschaftliche Zwänge bestimmt. Im Zweifel wurde also mehr gearbeitet, und ergänzende Schulungen mussten hintanstehen. Andererseits war es von der Ideologie her nur folgerichtig, den Vollzugsalltag auf den Arbeitseinsatz zu konzentrieren. Denn an der Arbeitsleistung hat man oft die Umerziehungsleistung gemessen. Wer gut arbeitet, so dachte man, der findet seinen Weg zurück in die sozialistische Gesellschaft.
Hatte die Haftarbeit eine Bedeutung für die deutsch-deutschen Beziehungen?
Sonntag: Ich würde sagen: eine untergeordnete. In den 1950er Jahren war die Existenz der Haftarbeitslager in der Bundesrepublik zwar vereinzelt ein Thema – oft nach dem Motto: «Schaut euch die Ostzone an! Da gibt es noch KZs.» Aber später nahm das ab. Vielleicht liegt das unter anderem daran, dass westliche Unternehmen Produkte aus der DDR bezogen, die mit Hilfe von Haftarbeitern erzeugt wurden. Im Einzelfall ist aber schwer zu klären, ob eine jeweilige Firma das so genau wusste.
Marcus Sonntag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Erfurt. Die Geschichte des Strafvollzuges in der DDR und von Arbeit und Arbeitserziehung sind zwei seiner Forschungsschwerpunkte.
ruk
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