Dass im Herbst die Corona-Inzidenzen wahrscheinlich wieder steigen, legen mehr als zwei Jahre Pandemie-Erfahrung nahe. Doch schon jetzt gehen die Zahlen deutlich hoch, die Sommer-Welle hat Deutschland voll im Griff.
Der Sommer hat 2020 und 2021 für ein Aufatmen in der Corona-Pandemie gesorgt. Doch dieses Jahr verunsichert das zuletzt sich wieder verschärfende Infektionsgeschehen viele. Die Inzidenzen klettern, das Robert Koch-Institut (RKI) warnt schon vor dem Pandemie-Herbst und -Winter vor wachsendem Infektionsdruck.
Coronavirus-Infektionen nehmen zu: Bundesgesundheitsminister rät dringend zu Auffrischungsimpfungen
Angesichts der steigenden Corona-Infektionszahlen hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) Älteren und Menschen mit Vorerkrankung zu einer Auffrischungsimpfung geraten. "Die angekündigte Sommerwelle ist leider Realität geworden. Das bedeutet auch für die nächsten Wochen wenig Entspannung", sagte Lauterbach der "Rheinischen Post". Der bisher beobachtete Sommereffekt in der Pandemie verpuffe diesmal. Grund dafür sei unter anderem, dass die aktuell zirkulierende Virusvariante sehr leicht übertragbar sei. Außerdem seien fast alle Vorsichtsmaßnahmen ausgelaufen, erläuterte Lauterbach der Zeitung. "Älteren und Vorerkrankten empfehle ich daher dringend, sich nochmal impfen zu lassen." Dies verhindere nicht unbedingt eine Infektion, aber es verhindere schwere Krankheitsverläufe.
Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz am Mittwochmorgen bei 472,4 und damit fast doppelt so hoch wie vor einer Woche. Am Vortag hatte der Wert der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner und Woche bei 447,3 gelegen (Vorwoche: 238,1; Vormonat: 452,4).
Geringe Aussagekraft! Inzidenzen und Infektionszahlen nicht zuverlässig erfasst
Allerdings liefert die Inzidenz kein vollständiges Bild der Infektionslage. Experten gehen seit einiger Zeit von einer hohen Zahl nicht vom RKI erfasster Fälle aus - vor allem, weil bei weitem nicht alle Infizierten einen PCR-Test machen lassen. Nur positive PCR-Tests zählen in der Statistik. Zudem können Nachmeldungen oder Übermittlungsprobleme zu einer Verzerrung einzelner Tageswerte führen.
Impfen vor der neuen Welle: Impf-Empfehlung für Ältere und Risikogruppen
Auch der Vorsitzende des Virchowbundes, Dirk Heinrich, rief zur Impfung auf - vor allem jene, die noch keinen Impfschutz haben. "Wer noch nicht geimpft ist, sollte sich jetzt impfen lassen, um eine schwere Erkrankung zu vermeiden", sagte Heinrich der "Rheinischen Post". Der Virchowbund ist ein Verband, der die Interessen der niedergelassenen Ärzte vertritt. Auch Heinrich wies darauf hin, dass sich Ältere oder Menschen, die zu einer Risikogruppe gehören, eine Auffrischungsimpfung abholen sollten. Die Politik rief er dazu auf, Vorbereitungen für den Herbst zu treffen.
BA.5 und steigende Inzidenzen begünstigen Frühsommerwelle: Warum steigen die Coronavirus-Zahlen wieder?
Die trotz milder Temperaturen zunehmenden Zahlen - die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz machte am Dienstag (14.06.2022) einen Sprung auf 447,3 im Vergleich zu 331,8 am Vortag - haben laut Experten mehrere Gründe. Zum einen ist da der Omikron-Subtyp BA.5, der zuletzt in Deutschland stetig zulegt. "Die Untervariante BA.5 ist noch ansteckungsfähiger als alle Varianten zuvor, kann sich also auch unter den für das Virus widrigen Bedingungen im Sommer verbreiten", erklärt Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Zudem könne BA.5 nach derzeitigem Kenntnisstand dem Immunsystem entwischen, selbst wenn es schon Kontakt zu Omikron-Varianten hatte, mahnt Ulrichs. Auch vollständig Geimpfte seien nicht vor einer Infektion gefeit. "Das bedeutet, es kommt eine große Anzahl von Wirten für die Verbreitung in Frage."
Nach Wellen in Ländern wie Portugal rechnen auch hierzulande viele Fachleute damit, dass BA.5 bald dominant werden dürfte. Laut letztem RKI-Wochenbericht beträgt der Anteil von BA.5 nach den letzten Daten etwa von vor zwei Wochen zehn Prozent - er dürfte aber inzwischen weitaus höher liegen, schätzt der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl.
Auf der anderen Seite steht ein allgemein verändertes Verhalten vieler Menschen. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen verweist vor dem Hintergrund gefallener Corona-Beschränkungen auf höhere Mobilität und mehr Kontakte - und das bei deutlich geringerem Schutzverhalten wie Maskentragen. Auch die nun bei vielen länger zurückliegende Impfung spiele eine Rolle bei der wieder zunehmenden Verbreitung: "Die Immunität hat im Schnitt abgenommen, vor schweren Erkrankungen sollte aber noch ein deutlicher Schutz vorhanden sein", so Zeeb.
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Droht Deutschland eine richtige Frühsommerwelle - und wie könnte sie ablaufen?
Immunologe Watzl ist sicher: Einstellige Inzidenzen wie etwa im letzten Sommer wird es dieses Jahr nicht geben. "Die Inzidenzen werden - wie aktuell zu sehen - bei einigen Hundert liegen. Dafür ist Omikron zu ansteckend." Er geht davon aus, dass sich rund die Hälfte der Bevölkerung noch nicht mit Omikron infiziert hat. "Da die Impfung nicht so gut vor der reinen Ansteckung schützt, hat das Virus also noch ausreichend Potenzial, Menschen zu infizieren."
Ob BA.5 Inzidenzen von über 1.000 verursachen werde, sei aktuell aber noch schwer abzuschätzen. "Die Möglichkeit einer Sommerwelle besteht aber", so Watzl. Auch Zeeb will sich nicht festlegen, wie hoch eine befürchtete Frühsommerwelle steigen könnte. Nicht zwangsläufig seien ebenso hohe Zahlen wie in Portugal zu erwarten, wo derzeit europaweit die mit Abstand höchsten Inzidenzen ausgewiesen werden.
Lässt sich so eine Welle irgendwie bremsen?
Nur mit raschen, strikten Maßnahmen, sagen die Experten. "Aus meiner Sicht ist es kaum möglich, außer mit sehr drastischen Maßnahmen aktuell steuernd einzugreifen", befindet Zeeb. Insbesondere die Risikogruppen wie ältere Menschen sollten deshalb aktiv zur Booster-Impfung aufgerufen werden, um ihren Schutz zu optimieren. Konkret sieht Ulrichs in der Wiedereinführung von Schutz-Maßnahmen wie dem flächendeckenden Maskentragen die einzige Möglichkeit, den aktuellen Trend zu bremsen. Immunologe Watzl verweist vor dem Hintergrund aber darauf, dass derzeit die rechtlichen Möglichkeiten fehlten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Wie dramatisch ist der aktuelle Anstieg bei den Coronavirus-Neuinfektionen?
Auch wenn die Zahlen Wachsamkeit erfordern, einen Grund zur Panik sehen die Fachleute nicht. Intensivmediziner Stefan Kluge vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf spricht momentan von einem "moderaten" Anstieg der Infektionszahlen. "Es muss in der aktuellen Lage darum gehen, Erkrankung und nicht so sehr die reine Infektion zu verhindern. Daher ist eine Sommerwelle zunächst auch erst mal nicht besorgniserregend", sagt Watzl. Dennoch gelte es, besonders vulnerable Menschen weiterhin konsequent zu schützen.
Zeeb sagt, es werde zwar absehbar mehr Infektionen geben, da aber BA.5 nach aktuellem Kenntnisstand klinisch ähnlich verlaufe wie vorherige Omikron-Varianten, dürfte es meist bei milden Verläufen bleiben. In der Summe könne es wieder etwas mehr Hospitalisierungen und auch Todesfälle geben, wenn die Infektionszahlen deutlich ansteigen, denkt er - eine Überlastung des Gesundheitswesens steht aus seiner Sicht aber nicht bevor.
Auch Kluge befindet mit Blick auf Normal- und Intensivstationen, wegen der wohl eher milden Verläufe durch Omikron-Sublinien sei eine deutliche Belastung des Gesundheitssystems durch sie im Sommer eher unwahrscheinlich. Dennoch bedeute eine hohe Anzahl von positiven Patientinnen und Patienten auch für Normalstationen eine deutliche Mehrbelastung - insbesondere für die Pflegenden. Watzl verweist auch auf mögliche Ausfälle bei Firmen durch viele leichte Infektionen.
Unbeschwertheit oder Vorsicht? Wie verhält man sich in der Sommer-Pandemie am besten?
Mit Blick auf das individuelle Verhalten appellieren die Experten jetzt wieder an die Selbstverantwortung. In den kommenden Wochen erwartet Zeeb ein Auf und Ab der Infektionszahlen, ab Herbst und Winter aber dann auch wieder einen Anstieg der Infektionen. So müsse klar sein, "dass Corona unter uns ist, es gibt da keine Sicherheit", betont Zeeb. Da umfassende Regulierungen weitgehend wegfielen, müsse nun jede und jeder selbst in Situationen mit vielen Menschen, insbesondere in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Schutz mit Masken denken und auch den Impfschutz aktuell halten. Ulrichs befindet: "Ein bisschen mehr Vorsicht wäre hilfreich."
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loc/news.de/dpa