Im Volksmund wird die Osteogenesis Imperfecta (OI) gerne als Glasknochenkrankheit beschrieben. Bei den Betroffenen zerbrechen die Knochen als wären sie aus Glas. Selbst bei kleinen Erschütterungen, wie beim Pflücken einer Butterblume.
Der Name, der so bildhaft das Hauptsymptom der Erkrankung beschreibt, wird von Betroffenen nur ungern verwendet. Denn, so erklärt Wilfried Hagelstein, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Osteogenesis Imperfecta Betroffene (DOIG), sie fühlen sich ja nicht krank. Stattdessen sagen sie von sich selbst: "Ich habe Glasknochen". Auch bezeichnen sie sich lieber als OI-Betroffene oder als behindert.
Bei OI handelt es sich um eine vererbte Bindegewebserkrankung, bei der das Kollagen vom Typ I geschädigt ist. Somit müssen Betroffene damit rechnen, dass alle Organe, in denen dieses Kollagen eine Rolle spielt, mit einem Defekt kämpfen. Vornehmlich sind die Knochen betroffen. Aber auch die Bänder in den Gelenken, die Sehnen, die die Herzklappen halten, und der Augapfel, der dünner ist als bei gesunden Menschen, können in Mitleidenschaft gezogen werden.
Aber Glasknochen sind nicht gleich Glasknochen. Die OI taucht in verschiedenen Schweregraden auf und wird in sieben Typen unterteilt. Während es sich beim Typ I und IV um milde Verlaufsformen handelt, haben die, die mit dem Typ II zur Welt kommen, nur eine geringe Überlebenschance. Der Typ III ist die schwerste der überlebenenden OI-Formen.
Die Besonderheit beim Typ V ist, dass bei Brüchen oder Rissen der Knochenkleber, der sogenannte Kallus, zu aktiv wird. Die Nähte bei der Heilung wirken dann wie Wucherungen und wurden früher häufig mit Knochenkrebs verwechselt. Ebenfalls typisch für den Typ V ist, dass im Unterarm die Verbindung zwischen Elle und Speiche verknöchert ist, so dass Drehbewegungen fast unmöglich werden. «Eine Tür aufzuschließen ist damit schwierig», erklärt Hagelstein.
Glasknochen bei Hunden und Katzen
Betroffene des Typ VI weisen zwar einige klassische Symptome der OI auf, haben aber keine Mutation des Kollagen-Gens. Der Typ VII wurde bisher kurioserweise nur bei einem Indianerstamm im kanadischen Quebec festgestellt. Die Erbkrankheit kann weltweit und durch alle Bevölkerungsschichten auftauchen. Sogar bei Schafen, Kühen, Mäusen, Hunden und Katzen wurde die Krankheit festgestellt.
Die meisten Knochenbrüche ziehen sich OI-Betroffene in der Kindheit und Pubertät zu. Da reiche schon eine kleine Erschütterung, wie beim Abreißen einer Butterblume, um das Skelett zu zerbrechen. "Die Wissenschaft ist sich noch uneins, woran das liegt", sagt Hagelstein. Zum einen wird angenommen, dass die Brüchigkeit mit dem Hormonhaushalt zusammenhängt. Ein weiterer Grund wird im Wachstum gesehen. «Das ist wie bei einem Kartenhaus», versucht Hagelstein es zu verbildlichen. «Wenn es steht, dann ist es relativ stabil.» In der Bauphase dagegen reiche schon ein kleines Zittern aus, um alles zum Zusammensturz zu bringen. Hinzu kommt, dass mit jedem Lebensjahr ein bisschen mehr Vorsicht und Erfahrung in den Alltag einfließt.
Erst in den vergangenen Jahren, auch durch die Arbeit der OI-Gesellschaften, habe sich langsam das Wissen um Osteogenesis Imperfecta verbreitet.» Die Deutsche OI-Gesellschaft wurde 1984 gegründet und ist, so sagt der Vorsitzende stolz, inzwischen zu einer echten Anlaufstelle für Betroffene, Angehörige, aber auch Ärzte geworden.
SO wird OI heute therapiert
Während früher die Tendenz eher zum Stilllegen ging, um die Knochen zu entlasten, hat sich die Herangehensweise heute deutlich verändert. Man weiß inzwischen, dass unbelastete Knochen an Dichte verlieren. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass spezielle physiotherapeutische Programme in die OI-Therapie eingebunden werden.
Wilfried Hagelstein, der selbst OI-betroffen ist, hat über Jahre ein eigenes Programm entwickelt, das er Glasfit nennt. Bei den Übungen geht es darum die Knochen und Muskel zu stärken, aber auch das Gleichgewicht zu üben und vor allem Ängste zu überwinden. Wenn etwa geübt werden soll, sich alleine vom Rollstuhl auf die Toilette zu hieven, wirkt die Sturzgefahr überwältigend. Wenn die Übung aber erstmal nur sitzend auf dem flachen Boden durchgeführt wird, dann ist das etwas ganz anderes. Bis zum großem selbständigen Schwung hinüber zur Toilette liegen viele Stufen über niedrige Hocker.
Eine große Hoffnung liegt für OI-Betroffene aber seit ein paar Jahren vor allem in einer medikamentöse Behandlung. «Es gibt bereits Erfolge», sagt Hagelstein. Zwar bedeute das nicht, dass jemand vom OI-Typ-III nun hinter einem Fußball her rennen könnte. Aber: Er kann wahrscheinlich ein paar Schritte selbständig gehen.
Bevor Physiotherapie und die Medikamente ins Spiel kamen, wurde OI vor allem über Begradigungsoperationen behandelt. Sogenannte Marknägel, die in die Knochen eingearbeitet wurden, übernahmen den Druck, den die Knochen tragen müssen. Inzwischen gibt es teleskopartige Nägel, die mit den Knochen mitwachsen, so dass eine einzige Operation ausreichen kann. Früher mussten die Betroffenen sich der schmerzhaften Prozedur mehrfach unterziehen.
OI-Betroffene lassen sich nicht von der Angst lähmen
In frakturfreien Zeiten fühlen sich viele OI-Betroffene recht unbeschwert. Zwar sei man sich immer seiner Glasknochen bewusst und vorsichtiger. Aber die meisten ließen sich nicht von der Bruchangst lähmen. Erst wenn die Knochen mal wieder nachgegeben haben, bricht auch eine Welt zusammen. Dann kommen alle Ängste, Schmerzen und Traumata der Kindheit hoch, hat Hagelstein in einer inoffiziellen Studie, die er mit der OI-Gesellschaft durchgeführt hat, festgestellt.
Schwangerschaften unter OI-Betroffenen sind ein heikles Thema. Nicht nur, dass sich die ethische Frage stellt, ob man das Risiko eingehen will, dem Kind die Krankheit zu vererben. Auch kann es körperlich oft schwierig werden, das Baby auszutragen oder es anschließend versorgen zu können. So beschreibt etwa eine betroffene Frau in einem Internetforum, wie das Gewicht des Kindes ihr beide Beine gebrochen hat. «Aber man rät nicht mehr pauschal zur Abtreibung, wenn eine Schwangerschaft vorliegt», sagt Hagelstein. Stattdessen werde von Fall zu Fall beurteilt, ob der Kinderwunsch nicht doch zu verwirklichen ist.
Wenn es um Sexualität geht, dann ist von OI-Betroffenen und ihren Partnern viel Kreativität und Fingerspitzengefühl gefragt. Denn viele Stellungen sind gar nicht möglich und zu wild darf es im Schlafzimmer auch nicht werden. Denn manche können gar nicht knien oder haben eine steife Hüfte. Aber deswegen müssen sie noch lange nicht auf den Spaß verzichten. Das scheint auch gut zu klappen. Zumindest hat Hagelstein noch nie Geschichten von Knochenbrüchen beim Sex gehört.
car/news.de
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