Wirtschaft

Verdeckte Arbeitslosigkeit in der DDR: «Man hätte 70 Prozent weniger Leute benötigt»

Joachim Ragnitz Bild: picture alliance / dpa | Oliver Killig

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Experten sprechen im Bezug auf den Arbeitsmarkt der DDR häufig vom Phänomen der verdeckten Arbeitslosigkeit. Was ist darunter zu verstehen?

Joachim Ragnitz: In der DDR gab es ein Recht auf Arbeit. Deswegen musste man auch Leute beschäftigen, die im Prinzip nicht gebraucht wurden. Das betrifft vor allem die vielen staatlichen Aktivitäten wie die Überwachung. Wenn man es so will, war das pure Beschäftigungstherapie.

Heißt das, in der DDR konnte niemand gekündigt werden?

Ragnitz: Das kann ich nicht genau sagen. Ich meine aber, wenn jemand gekündigt wurde, musste man ihm eine Ersatzarbeit anbieten, denn es gab ja das Recht auf Arbeit. Es gab also in dem Sinne keine Kündigungen, sondern eher Versetzungen auf andere Stellen. Die Kombinate in der DDR waren groß, da gab es für jeden Arbeit.

Wie entsteht denn verdeckte Arbeitslosigkeit?

Ragnitz: In der DDR gab es keine Marktwirktschaft, alles war verstaatlicht, die Leute konnten nicht entlassen werden. Selbst, wenn jemand eigentlich gar nicht qualifiziert war, musste er weiter durchgefüttert werden.

Worin besteht der Unterschied zur offenen Arbeitslosigkeit?

Ragnitz: Bei der offenen Arbeitslosigkeit werden die Leute richtig entlassen, sie stehen auf der Straße und müssen sich arbeitssuchend registrieren. Der größte Unterschied besteht wohl auch in der Weiterbezahlung. Bei der offenen Arbeitslosigkeit erhalten die Betroffenen keinen Lohn mehr vom Unternehmen, sondern werden vom Staat finanziert. Bei der verdeckten Arbeitslosigkeit wurden die Menschen auch dann weiterhin vom Unternehmen bezahlt, obwohl sie gerade nicht beschäftigt waren.

Welche Vor- und Nachteile bringt die verdeckte Arbeitslosigkeit für Arbeitnehmer und Betriebe?

Ragnitz: Für die Arbeitnehmer hatte die verdeckte Arbeitslosigkeit sicher Vorteile. Sie sind abgesichert und bekommen ein festes Gehalt. In der DDR hat man gesagt, die Arbeit ist der Lebensmittelpunkt. Man konnte nicht ins Bodenlose fallen, weil man immer ins betriebliche Umfeld eingebunden war und darüber ein soziales Netzwerk hatte. Der Nachteil war sicherlich die Unzufriedenheit. Für die Betriebe ist es schwer zu sagen, welche Vor- oder Nachteile das brachte. Es war ja alles Staatseigentum, da hat man nicht an Vorteile für die eigene Situation auf dem Markt gedacht. Positiv war sicherlich, dass man die Leute auch für konjunkturschwache Zeiten halten konnte. Aber sonst war die verdeckte Arbeitslosigkeit unter den gegebenen Bedingungen in der DDR für die Unternehmen egal.

Wie erklären Sie sich den immensen Produktivitätsrückstand im Vergleich zu westlichen Ländern?

Ragnitz: Die Produktivität war so gering, weil es an Maschinen und Rohstoffen fehlte. Und es gab das Problem der mangelnden Investitionstätigkeit und die Abschottung von westlichen Technologiestandards. Viele Menschen waren blödsinnig beschäftigt, zum Beispiel in der öffentlichen Verwaltung. Damit waren sie nicht für die offizielle Produktion verfügbar.

Wie hätte man dem entgegenwirken können?

Ragnitz: Die DDR ist nicht mit heutigen Systemen vergleichbar, daher lässt sich das schwer sagen. Statt marktwirtschaftlichen Anreizen gab es Befehle und Anordnungen. Das System an sich war nicht verhandelbar, daher gab es wenig Möglichkeiten, den Problemen entgegenzuwirken. Da hätte man schon einen totalen Systemumbruch machen müssen.

Findet man auch heute in der Bundesrepublik noch verdeckte Arbeitslosigkeit und wenn ja, wo?

Ragnitz: Von verdeckter Arbeitslosigkeit könnte man da sprechen, wo Menschen vom Staat weiterbeschäftigt werden, um die offene Arbeitslosigkeit zu senken, also bei arbeitsmarktpolitischen Programmen wie ABM und ähnlichem. Jeder weiß doch, dass eine ABM nur ein Substitut für Arbeit ist. Aber Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, werden sich keine verdeckte Arbeitslosigkeit leisten können. Ausnahmen wären beispielsweise die Kurzarbeit, mit der man versucht, Leute auch bei saisonalen Schwankungen im Betrieb zu halten.

Lässt sich das heutige Beamtentum mit dem Phänomen der verdeckten Arbeitslosigkeit gleichsetzen?

Ragnitz: Im öffentlichen Dienst wären die Voraussetzungen dafür vorhanden, weil man unkündbar ist. Aber ich würde da nicht von verdeckter Arbeitslosigkeit reden. Personalüberhang klingt viel positiver.

Wie viele Menschen waren also de facto in der DDR ohne Arbeit – oder wären es gewesen, wenn sich das System an der freien Marktwirtschaft orientiert hätte?

Ragnitz: Es gab mal Schätzungen, da war die Rede von einer Million, aber so genau kann ich das nicht sagen. In der DDR lag das Produktivitätsniveau bei 40 Prozent. Wären die Bedingungen ähnlich wie im Westen gewesen, hätte man wohl 70 Prozent weniger Leute benötigt.

Joachim Ragnitz ist stellvertretender Geschäftsführer des Instituts für Wirtschaftsforschung, Niederlassung Dresden. Der promovierte Diplom-Volkswirt befasst sich vor allem mit Themen der Ostdeutschlandforschung wie regionaler Entwicklung und Wirtschafts- und Finanzpolitik. Er schreibt außerdem Gutachten für die Europäische Kommission und ist stellvertretender Vorsitzender des Wirtschaftsbeirats der Thüringer Landesregierung.

fme

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