«Du gehst nicht allein»: Die maschinelle Umarmung
Von news.de-Redakteur Sven Wiebeck
21.03.2019 15.12
Temple Grandin ist anders. Sie spricht wenig, nur das Nötigste. Und das zu laut. Dabei reißt sie die Augen weit auf. Körperliche Nähe erträgt sie nicht. Sie nimmt die Welt auf eine besondere Weise wahr. Sie sieht Einzelheiten, für die ihre Mitmenschen blind sind, denkt in Bildern und verbindet diese. Es braucht Polaroidfotos ihrer selbst, damit sie sich der eigenen Gefühlszustände bewusst werden kann. Alltägliche Dinge überfordern sie. Temple Grandin ist Good Night, And Good Luck) schafft Temple den Schulabschluss. Er will unbedingt mit der «verblüffenden, visuellen Denkerin» arbeiten und bestärkt die Autistin darin, experimentelle Psychologie zu studieren. Ihre Doktorarbeit schreibt sie später im Fach Tierwissenschaften.
Als Freak beschimpft
Doch der Weg dahin ist weit und beschwerlich. Ihre Mitmenschen bezeichnen Temple immer wieder als Freak, begegnen ihr mit Unverständnis und machen sich über sie lustig. Nur mit Hilfe ihrer selbst gebauten Pressmaschine kann sie die Wirren des Studiums bewältigen, bekommt sie ihre Panikattacken in den Griff.
Ihre Inspiration für die seltsam anmutende Gerätschaft holt sich Temple auf der Rinderfarm ihrer Tante Ann (Catherine O'Hara - Kevin allein zu Hause). Dort entdeckt sie auch ihre Faszination für Tiere, besonders für Rinder. Zum Impfen werden diese in eine spezielle Maschine eingeklemmt. Die junge Frau ist fasziniert von dem Anblick der eingepferchten Tiere. Denn anstatt völlig panisch zu reagieren, werden sie plötzlich ganz ruhig. Der starke Druck besänftigt sie.
Also baut sich Temple, die sie keine Umarmung von Menschen erträgt, eine eigene Berührungsmaschine. «Ich steige in die Maschine und bin hinterher ein anderer Mensch», erklärt sie ihrer Mitbewohnerin im College: entspannter und geselliger. Nach und nach gelingt es der Autistin so, ihre extremen Berührungsängste zu vermindern.
Die wahre Geschichte einer Autistin
Du gehst nicht allein ist die Verfilmung des Lebens der wahren Temple Grandin, die heute als führende Expertin sowohl auf dem Feld der Verhaltensbiologie von Nutztieren als auch auf dem Gebiet des Autismus gilt. Heute lehrt sie als Professorin an der Colorado State Universität und hält weltweit Vorträge über den Umgang mit Tieren und Autismus. Die vielfach preisgekrönte US-amerikanische Fernsehproduktion basiert auf den Büchern Emergence sowie Thinking In Pictures von Temple Grandin und Margaret Scariano.
Regisseur Mick Jackson (L.A. Story, Bodyguard) zeichnet ein eindrucksvolles Portrait einer Frau, die anders ist. Einer Außenseiterin, die immer wieder auf die üblichen Vorurteile stößt und all ihre Kraft braucht, um sich den Widerständen ihrer Mitmenschen entgegenzustellen. «Ich weiß, dass ich anders bin, aber nicht minderwertig», lässt er Claire Danes bestimmt sagen.
Sie steht im Zentrum der auch in den Nebenrollen hochkarätig besetzten Filmbiographie. Ihr intensives Spiel ist exzellent. Zu Recht wurde sie für ihre ausgeprägte und überzeugende, aber nie übertreibende Darstellung der Autistin mit dem Golden Globe, dem Emmy sowie dem Screen Actors Guilde Award ausgezeichnet.
Hinzu kommt Jacksons ideenreiche Inszenierung. Das Realbild überlagernde Grafiken lassen den Zuschauer teilhaben an Temple Grandins Gedanken. Überlaute Alltagsgeräusche vermitteln Eindrücke ihrer Wahrnehmung, ebenso lichtblitzartige Aufnahmen von Gegenständen und Personen. Dabei stellt sie sich auch schon mal vor, wie ihre Tante krähend neben dem Hahn hockt, wenn sie sagt, dass sie «mit den Hühnern aufsteht». Oder blickt die Kamera aus der Perspektive eines Pferdes oder einer Kuh auf die Welt.
Anfänglich bestimmen Groß- und Detailaufnahmen die Inszenierung. Doch je mehr sich Temple Grandin ihrer Umwelt öffnet, desto mehr bildet der Regisseur diese auch in ihrer Gesamtheit ab.
Bestes Zitat: «Die Natur ist grausam, wir müssen das aber nicht sein. Wir schulden den Tieren ein bisschen Respekt.» (Temple Grandin)
Titel: Du gehst nicht allein
Regie: Mick Jackson
Darsteller: Claire Danes, Julia Ormond, Catherine O'Hara, David Strathairn
Sendeterin: Freitag, 23. Dezember 2011, 20.15 Uhr, auf Arte