Sadomasochismus: Die Lust am Schmerz
13.09.2013 17.49
Dr. Javorszky, was genau ist Sadomasochismus überhaupt?
Javorszky: Umgangssprachlich bezeichnet man mit Sadomasochismus (SM) Praktiken, in welchen eine Person Lust daraus zieht, dass ein anderer Schmerz erleidet oder zufügt. Von Sadomasochismus spricht man aber nur, wenn das Spiel im gegenseitigen Einvernehmen stattfindet. Da liegt der Unterschied zum puren Sadismus oder Masochismus. Wenn Person A Person B Schmerzen zufügt, ist Person A in sadistischer Weise pervers und Person B in masochistischer Weise pervers. Nachdem in der Regel die Rollen A und B weitgehend austauschbar sind, spricht man von einer sadomasochistischen [tt=Unbewusstes Einverständnis zwischen mehreren Personen.]Kollusion.
Sind die Rollen als Masochist und Sadist nicht festgelegt?
Javorszky: Nein, das Wirkprinzip ist unabhängig davon, ob Schmerzen erlebt oder zugefügt werden. Es handelt sich um eine Verneinung beziehungsweise karikaturenhafte Übertreibung der [tt=Einfühlungsvermögen]Empathie, des Mitgefühls. Es geht bei der Empathie darum, dass ich mitfühle, was Person B empfindet. Die sadistische Variante spaltet das empathische Erleben ab und genießt die Tatsache, dass das Abgespaltene nicht im Bewusstsein, sondern im Unterbewusstsein erlebt wird. Ich genieße, dass es nicht ich bin. Also die biochemischen Prozesse des mitgefühlten Schmerzes in einem Gehirnareal ablaufen, zu welchem ich die Verbindungen gekappt habe.
Gibt es eine Grenze zwischen SM und «normalem» Sex?
Javorszky: Eine Grenze ist schwer zu ziehen. Das weibliche Sexualempfinden zum Beispiel ist - laut Fachliteratur und auch bestätigt durch jedermanns Erfahrung - schließlich schon äußerst schmerztolerant. Freud spricht hier von einer masochistischen Tendenz des Weibes, Praktiken zu erdulden. Die Penetration hat nun einmal oft Aspekte einer Inbesitznahme und Niederwerfung.
Sind Frauen demnach von Natur aus tendenziell masochistisch veranlagt?
Javorszky: Es ist zumindest natürlich, es reizvoll zu finden, sich sexuell zu unterwerfen. Wenn sich das Männchen schon nicht gegen Artgenossen durchsetzen muss, um seine Stärke und Potenz zu beweisen, so muss es doch wenigstens stärker als das Weibchen sein und darf das dann im Bett auch mal zeigen.
Ist der Sadomasochismus dann eine mit anderen Vorlieben gleichberechtigte sexuelle Präferenz oder handelt es sich um eine behandlungsbedürftige Störung des Sexualverhaltens?
Javorszky: Wer Probleme mit der Prägung durch die Mutter hat und mit der Abwehr der Inbesitznahme durch die Mutter, versucht oft Ärger durch Sadomaso-Spielchen mit einem willigen Partner abzubauen. Das Ritual, Spaß daran zu haben, sich einen Dreck darum zu scheren, was der andere empfindet, ist eine tiefe Auflehnung gegen das mütterliche Befürsorgtwerden. Mami hat immer mitempfunden. Das wird im Zuge des Sadomaso verneint.
Warum kennt man de Sade als Namensgeber des Sadismus, aber kaum jemand weiß etwas von Sacher-Masoch, der in mehreren Werken den Lustgewinn durch Schmerz und Unterwerfung schildert, und nach dem der Masochismus benannt wurde? Ist Masochismus weniger verbreitet oder eher mit Tabus verbunden als Sadismus?
Javorszky: Sadismus fasziniert eher, macht Angst, ist spannender. Sozial akzeptierter ist aber Masochismus. Betroffenheit und Mitgefühl sind schließlich purer Masochismus. Anteil am Leid zu nehmen, sich zu kasteien, zerknirscht zu sein, Reue zu zeigen sind alles abgemilderte Formen der freiwillig auf sich genommenen Leidensbereitschaft.
Muss Sadomasochismus körperlich ausgelebt werden oder rechtfertigen auch gewisse Beziehungsstrukturen die Diagnose?
Javorszky: Das Leben für, durch, wegen und trotz anderen - also ein Erleben der eigenen Empfindungen als Spiegelung von Erlebnissen anderer - ist technisch gesehen ein Teil der sadomasochistischen Praktiken. Immer wenn A sich nicht direkt als A erlebt, sondern er sein Erleben als eine Folge des Erlebens von B definiert, handelt es sich um sadomasochistische Erregungsverarbeitungsmuster. «Ich freue mich, weil du dich freust» ist das auch eine Verdinglichung des Selbst, eine Verneinung der eigenen Erlebnisfähigkeit.
Sigmund Freund geht davon aus, dass Sadomasochismus aus einer fehlerhaften Entwicklung der kindlichen Psyche entsteht. Ist diese Sichtweise unter Ihren Kollegen noch weit verbreitet und gerechtfertigt?
Javorszky: Wenn einer ausschließlich so zum Höhepunkt kommen kann, dass jemand anderer etwas erlebt, ist dies eine schwere Störung. Wenn Sie im Kino mitfiebern oder zu Tränen gerührt sind wegen der Erlebnisse anderer, aber auch ein eigenes Erleben besitzen, ist das alles okay. Das Grundprinzip der Abnormalitätsgrenze ist immer das Gleiche: Wenn es nicht anders als auf eine bestimmte Weise geht, ist das meist krank. Wenn die eine oder andere Exzentrizität ab und an erlebt wird, ist es im Rahmen des Üblichen.
Kann man Kindern schon anmerken, ob sie später sadistische Neigungen entwickeln werden?
Javorszky: Ja, in der Regel schon. Tiere quälen, verschlossen sein, lange Bettnässer, lügen, stehlen, Nägel kauen: Wenn von diesen sechs Symptomen alle auftreten, sollte man sich Gedanken machen. Wenn nur maximal drei der Symptome auftreten, wird es in der Regel gut gehen.
In Dänemark und Schweden gilt Sadomasochismus laut landeseigenem ICD nicht mehr als krankhafte Störung. Eine Entwicklung, die auch bei uns absehbar ist?
Javorszky: Was zwei Leute freiwillig tun, kann nicht krank sein. Das wird man auch in Mitteleuropa irgendwann vollständig einsehen müssen.
brc/sis/ivb/news.de