Europawahl 2024: Der Osten ist blau: Wie umgehen mit der AfD?
Erstellt von Sarah Knauth
10.06.2024 15.52
Der Osten ist blau. So sieht die Deutschlandkarte am Tag nach der Europawahl aus, jedenfalls auf den ersten Blick. In allen fünf ostdeutschen Flächenländern ist die AfD stärkste Kraft - trotz aller Proteste und Warnungen vor der in Teilen rechtsextremen Partei, trotz ihrer Personalquerelen, trotz Spionagevorwürfen. Auch bei den Kommunalwahlen liegt sie vielerorts vorn. Die AfD wird also gewählt - nicht nur in Ostdeutschland, aber besonders häufig dort. Und nun?
Bei den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September erwarten Experten ähnliche Ergebnisse. Es scheint sogar nicht völlig ausgeschlossen - wenn auch sehr unwahrscheinlich -, dass die AfD erstmals einen Ministerpräsidenten stellen könnte. Den Machtanspruch formuliert die Partei klar. Darauf verlassen kann sich die AfD aber nicht. "Es gibt jetzt keinen Grund für Ohnmacht", sagt der Extremismusforscher Matthias Quent der Deutschen Presse-Agentur.
Warum die AfD so stark abschnitt
Die AfD-Ergebnisse von um die 30 Prozent in den östlichen Ländern sind aus Sicht von Experten nicht nur Protest. Gerade in Ostdeutschland habe viele Menschen das Thema Krieg und Frieden bewegt, also der künftige Umgang mit der Ukraine, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Thorsten Faas. Hier hätten AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht andere Positionen vertreten als die übrigen Parteien. "Und das scheint mir einer der Hauptgründe zu sein, warum viele dann auch dort ihr Kreuzchen gemacht haben." Die AfD werde durchaus aus inhaltlichen Gründen gewählt.
"Seit längerem finden große Teile der ostdeutschen Bevölkerung, dass ihre Positionen in der Politik in Deutschland und Europa zu wenig abgebildet sind", berichtet die Leipziger Sozialwissenschaftlerin Astrid Lorenz. Sie nennt auch die Themen Klimaschutz und Sicherheitslage, die in Ostdeutschland kritisch gesehen würden.
Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz geht davon aus, dass zwei von drei AfD-Wählern eine relativ feste Parteibindung entwickelt haben. Sie fühlen sich der AfD verbunden, "weil sie sich mit ihren politischen Forderungen identifizieren". An ihnen perlten auch die Skandale einzelner AfD-Europapolitiker oder eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung von Thüringen Rechtsaußen Björn Höcke wegen Nutzung von Nazi-Parolen ab.
Die AfD sieht das Ende der Brandmauer gekommen
Die AfD sei kommunal immer stärker verankert, beobachtet der Soziologe Quent. Wenn sie im Kommunalparlament stärkste Fraktion sei, könne man noch weniger an ihr vorbei Politik betreiben. "Das ist ja auch die Strategie, sich über die kommunalen Parlamente so zu normalisieren, dass dann in nächster Instanz auf der Länderebene eben auch eine Zusammenarbeit in greifbarere Nähe rückt", meint der Forscher.
AfD-Parteichef Tino Chrupalla bestätigt das. "Es wird keine Brandmauern mehr geben, weil diese Brandmauern eingestürzt sind", sagt Chrupalla im Deutschlandfunk. "Der Landrat, aber umgekehrt natürlich auch der Kreistag muss mit dem Landrat zusammenarbeiten." Die langfristige Ambition: Ob nun 2029 oder 2032, irgendwann werde man "auch in Fläche die Hauptverantwortung in Landräten und Bürgermeistern stellen", sagt Chrupalla.
Seine Parteikollegen in den Ländern hoffen auf schnellere Erfolge. "Wir haben die SPD als führende Kraft in diesem Land abgelöst", sagt zum Beispiel Brandenburgs Landeschef René Springer. Das Ziel sei, bei der Landtagswahl am 22. September über 30 Prozent zu kommen. Sachsen-Anhalts Co-Fraktionschef Ulrich Siegmund bezeichnet die AfD als "die neue Volkspartei" und zielt auf eine Regierungsübernahme 2026 in Sachsen-Anhalt. "Unser Plan ist es, hier allein zu regieren."
Stark, aber ohne Machtoption
Die absolute Mehrheit für die AfD? Davon ist die Partei auch mit Werten um die 30 Prozent noch ein gutes Stück entfernt. "Um Politik zu gestalten, müsste die AfD koalitionsfähig werden", sagt Brodocz. Ohne reale Machtoption könnten "ihre Wähler auf Dauer möglicherweise unzufrieden" werden. Koalitionspartner sind aber nirgends in Sicht.
Überhaupt lohnt ein genauer Blick. Nicht überall im Osten ist die AfD gleich stark. Die Stichwahlen um Kommunalämter in Thüringen verlor sie. Und Hochburgen gibt es inzwischen auch in westdeutschen Regionen, etwa im Ruhrgebiet, wie der Düsseldorfer Politologen Stefan Marschall berichtet. Das beste Ergebnis in NRW bei der Europawahl hatte die AfD mit 21,7 Prozent in Gelsenkirchen. Marschall führt das zurück auf eine matte SPD. Diese Analyse sticht vielerorts auch im Osten: Die Stärke der AfD liegt eben auch in der Schwäche der etablierten Parteien.
So erzielte die AfD in Sachsen bei der Europawahl 31,8 Prozent und damit mehr als doppelt so viel wie die Ampel-Parteien zusammen: SPD 6,9 Prozent, Grüne 5,9 Prozent und FDP 2,4 Prozent. Die CDU hat immerhin noch 21,8 Prozent und das Bündnis Sahra Wagenknecht aus dem Stand heraus 12,6 Prozent. Das ist der Grund, warum ein AfD-Ministerpräsident in Sachsen nicht völlig ausgeschlossen wird: Verlieren die Ampel-Parteien weiter, könnte es ein Drei-Parteien-Parlament geben und im Extremfall eine Mehrheit der Mandate für die AfD. Aktuell unwahrscheinlich, aber nicht undenkbar.
"Keine Partei kann sich in Sicherheit wiegen"
Denkbar wäre aber auch, dass andere Parteien sich stabilisieren - nicht nur Meinungsforscher kennen Wählerinnen und Wähler inzwischen als sehr wechselfreudig. "Keine der Parteien kann sich in Sicherheit wiegen", sagt Parteienforscher Faas von der Freien Universität Berlin. "Auch in kürzester Zeit kann sich beim Wahlverhalten unglaublich viel bewegen."
Der Soziologe Quent sieht Handlungsspielräume, um die AfD zu bremsen. Die Mobilisierung anderer Parteien in Thüringen habe beispielsweise dazu geführt, dass sich die AfD dort bei den Landratswahlen nicht habe durchsetzen können. Bei den Landtagswahlen werde auch der Amtsinhaberbonus eine Rolle spielen, meint er. Der Leipziger Soziologe Johannes Kiess riet den jetzigen Wahlverlierern: "Es kommt viel darauf an, wie sich die demokratischen Parteien nun verhalten. Nur auf die AfD zu zeigen, wird nicht viel helfen. Die Parteien müssen wieder in den konstruktiven Modus schalten."
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+++ Redaktioneller Hinweis: Diese Meldung wurde basierend auf Material der Deutschen Presse-Agentur (dpa) erstellt. Bei Anmerkungen oder Rückfragen wenden Sie sich bitte an hinweis@news.de. +++
kns/roj/news.de