Erfahrungsbericht zum 9-Euro-Ticket: Bahn-Horror an Pfingsten! So schlimm war der Start wirklich
Von news.de-Redakteur Martin Gottschling
10.06.2022 14.38
Bilder von Punkern, die Sylt ins Chaos stürzen; TikTok-Videos von Menschenmassen am Hamburger Hauptbahnhof; Zugräumungen auf touristisch beliebten Strecken - in den Medien kursierten am Wochenende zahlreiche Horror-Meldungen zum Bahnchaos an Pfingsten wegen des 9-Euro-Tickets. Auch ich habe das Experiment gewagt und bin in den vergangenen Tagen innerhalb Deutschlands verreist. Ein Erfahrungsbericht.
Mit dem 9-Euro-Ticket ging es von Leipzig über Zwickau nach Regensburg
Mein Ziel ist Regensburg inklusive Zwischenübernachtungen bei meinen Eltern in Zwickau. Die Reise beginnt am Freitagnachmittag, 15.20 Uhr, am Leipziger Hauptbahnhof. Die Bahnsteige sind gut gefüllt, Chaos herrscht aber noch nicht. Zunächst geht es mit dem Regionalexpress von Leipzig nach Chemnitz. Die Direktverbindung nach Zwickau fällt wegen Bauarbeiten aus, deshalb muss ich den Umweg in Kauf nehmen. Der Zug ist gut gefüllt, die Schaffnerin gibt die erste Klasse frei. Mir hat sich sowieso nicht erschlossen, warum dafür zwei lange Waggons bereitgestellt worden - schließlich ist das 9-Euro-Ticket in der 1. Klasse nicht gültig.Die Abteile sind voll, einige Menschen müssen auf den Gängen stehen. Dieses Szenario habe ich aber auf der selben Strecke auch schon an anderen Freitagnachmittagen erlebt. Die Fahrt verläuft entspannt, ich erreiche meinen Anschlusszug in Chemnitz rechtzeitig. Das einzig Negative: Auf die immer noch geltende Maskenpflicht achten gefühlt nur 50 Prozent der anderen Fahrgäste - war aber ebenfalls schon in Vor-9-Euro-Ticket-Zeiten so.
Regionalexpress ist voll, aber nicht überfüllt
Die Fahrt geht weiter mit dem "Bummelzug", der Regionalbahn von Chemnitz nach Zwickau inklusive aller Zwischenhalte. Dauert 45 Minuten, und damit etwa 20 Minuten länger als die Fahrt mit dem Regionalexpress, der ebenfalls über Chemnitz und Zwickau fährt, ist dafür aber wohl deutlich entspannter. Im hinteren Abteil finde ich genügend freie Plätze, kann sogar meinen Rucksack auf den Sitz neben mir ablegen, ohne dass es jemanden stört. Warum die Menschen, die im vorderen Abteil die Gänge blockieren nicht einfach weiter bis nach hinten im Zug durchgegangen sind - keine Ahnung. Weiter geht es am Samstagmorgen, 8.30 Uhr, mit der MRB von Zwickau nach Hof. Der Zug ist wieder gut gefüllt. Erneut habe ich sogar Platz, um meinen Rucksack auf dem Sitz neben mir zu platzieren. In Hof steige ich in die Alex-Länderbahn nach Regensburg um. Auch hier werde ich schnell fündig, lasse mich in einem Abteil mit sechs Sitzplätzen nieder. Nur vereinzelt stehen Menschen in den Gängen. Ich komme nur etwa zehn Minuten später als geplant nach dreieinhalb Stunden in Regensburg an - den genauen Grund für die Verspätung kenne ich allerdings nicht: Die Bahnmitarbeiterin hielt es nicht für nötig, deswegen eine Durchsage zu machen.
Maskenpflicht wurde nicht eingehalten
Meine Rückfahrt trete ich am Sonntag, 14.15 Uhr, an. Es geht über die selbe Strecke (Regensburg - Hof - Zwickau) zurück. Wieder finde ich in beiden Zügen einen Sitzplatz, in den Abteilen ist sogar teilweise noch etwas frei. Erneut stören mich nur die anderen Fahrgäste, die sich partout nicht an die Maskenpflicht halten wollen. Nach einer weiteren Übernachtung bei meinen Eltern geht es am Montagnachmittag, 17.30 Uhr, von Zwickau über Chemnitz zurück nach Leipzig. Und dabei steige ich erstmals in einen total überfüllten Regionalexpress Richtung Dresden ein. Das liegt auch daran, dass ausgerechnet zu dieser Stoßzeit nur einer statt zwei Wagen zur Verfügung gestellt wird. Dabei weiß ich, dass diese Strecke am Sonntagnachmittag und -abend immer sehr beliebt ist, weil ich sie in der Vergangenheit aus privaten Gründen schon häufiger fuhr. Überfüllte Züge kenne ich zwischen Zwickau und Dresden also bereits - andere Fahrgäste, die schimpfen, sie fühlen sich wie in einer Sardinenbüchse offenbar nicht. Ich muss für eine halbe Stunde stehen, finde aber im Regionalexpress von Chemnitz nach Leipzig (Fahrtdauer: eine Stunde) wieder einen Sitzplatz, komme pünktlich an.
Am Pfingstwochenende gab es 400 Züge mit zu hoher Auslastung
Mein Fazit: Meine erste Reise mit dem 9-Euro-Ticket lief entspannter als zuvor gedacht. Als ich vor zwei Jahren an einem Pfingstmontag mit dem ICE von Frankfurt Richtung Berlin fuhr, gab es eindeutig mehr Probleme. Der Zug war schrecklich überfüllt, ich kauerte stundenlang in einem engen Gang und kam etwa zwei Stunden später als geplant an meinem Ziel an. Insgesamt kam mir die Berichterstattung über das 9-Euro-Ticket am Wochenende viel zu negativ vor. Sicher gab es viele Reisende, die wegen Ausfällen, überfüllten Zügen oder Zugräumungen auf der Strecke blieben. Der Vize-Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats DB Regio, Ralf Damde, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND/Dienstag), es habe am Pfingstwochenende jeden Tag etwa 400 Züge mit zu hoher Auslastung gegeben, so dass Passagiere abgewiesen oder Fahrräder nicht mitgenommen worden seien. Dazu gab es pro Tag rund 700 Meldungen von Überlastung, Problemen mit Passagieren oder Störungen an die Einsatzzentrale. Das sei signifikant mehr als an einem durchschnittlichen Wochenende und auch als am Pfingstwochenende vor Corona. Durch zusätzlichen Personalbedarf seien zudem Tausende Überstunden nötig gewesen.
Politik sollte mehr in den ÖPNV investieren
Dennoch lief es auf vielen Verbindungen, ähnlich wie bei mir, auch gut. Außerdem war der Ansturm vorab klar. Die Fahrradmitnahme hätte von vorn herein verboten werden sollen. Störungen bei der Deutschen Bahn bin ich als regelmäßiger Nutzer ihre Angebote auch aus Vor-9-Euro-Ticket-Zeiten gewohnt. Das liegt an dem jahrelangen Kaputtsparen des ÖPNV durch die Politik. Immer mehr Strecken wurden aus Kostengründen stillgelegt, Personal und Züge reduziert. So geht Verkehrswende sicher nicht. Viele, die an diesem Wochenende zum ersten Mal seit langem wieder mit dem Zug gefahren sind, waren von den Problemen gewiss überrascht. Für regelmäßige ÖPNV-Nutzer sind sie bekannt, wenn vielleicht in etwas geringerem Ausmaß.
9-Euro-Ticket muss noch angepasst werden
Das 9-Euro-Ticket ist insgesamt ein Schritt in die richtige Richtung. Es lockt tatsächlich, wie das Pfingstwochenende gezeigt hat, mehr Menschen von der Straße auf die Schiene. Es muss allerdings eine dauerhafte Lösung für einen kostengünstigeren ÖPNV her. Wem nutzt das 9-Euro-Ticket, wenn im September die Preise für das Bus- und Bahnfahren wieder explodieren? Dass FDP-Verkehrsminister Volker Wissing über Reformen bei den undurchsichtlichen Tarifzonen nachdenkt, ist gut. Es muss dabei aber auch in Zukunft an die Bevölkerungsgruppen gedacht werden, die nicht vom 9-Euro-Ticket profitieren. Das heißt: Der ÖPNV muss in ländlichen Regionen besser ausgebaut werden, Bahnfahren muss durch mehr Direktverbindungen mit genügend Platz in den Zügen attraktiver werden. Um überfüllte Züge durch Touristen zu vermeiden, könnte man den Preis für ein einheitliches Ticket zum Beispiel auf 40-50 Euro hochsetzen. Dann kaufen es sich trotzdem mehr Menschen, aber eben nur jene, die es wirklich oft nutzen. Es wäre dennoch weiter billiger als zum Beispiel drei Einzeltickets für Fahrten von Leipzig nach Zwickau. Das 9-Euro-Ticket hat derzeit auch noch einen weiteren positiven Effekt, der in der Berichterstattung bislang viel zu kurz kommt: Er kurbelt den innerdeutschen Tourismus nach der schwierigen Corona-Zeit wieder an.
Das waren die Twitter-Reaktionen zum 9-Euro-Ticket
Auch auf Twitter gibt es übrigens nicht nur negative Meinungen zum 9-Euro-Ticket. Ein User schreibt zwar: "Das #9EuroTicket ist eine sozialistische Kampagne, um den "kostenlosen" ÖPNV zu bewerben. Übrigens: In der DDR waren die Wohnungsmieten so niedrig, dass sie nicht einmal für die einfache Instandhaltung der Häuser ausreichten." Und ein anderer meint: "Mit einem Angebot für alle, auch die Zahlungskräftigen, reduziert man nur den finanziellen Spielraum, ohne dass man große Effekte erzielen dürfte." Doch wiederum andere Nutzer sagen auch: "An Pfingsten gab es schon immer Zugüberfüllung, dass hat so garnichts mit dem #9EuroTicket zu tun, die reißerische Berichterstattung ist unerträglich" oder: "Volle Züge gibts zur Ferienzeit immer. Volle Züge gibts auch im Pendelverkehr. Volle und verspätete Züge sind nicht die Schuld des #9EuroTicket und dessen Nutzer:innern, sondern der kaputtgesparten Infrastruktur bei der Bahn."
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gom/bua/news.de