Politik

Rumänien: «Die schlimmsten Eindrücke meines Lebens»

Valentin Kelbling war 1990 für das Rote Kreuz in Rumänien. Bild: privat

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Die unglaublichen Zustände im rumänischen Kinderheim Cighid lösten 1990 weltweit Entsetzen aus. Sie waren als erster Helfer vor Ort. Wie kam es dazu?

Kelbling: An einem Montag im März 1990 erschien im Spiegel eine Geschichte über die Zustände in dem Heim. Ich war damals schon in Rumänien für das Rote Kreuz aktiv, koordinierte in mehreren Landesteilen die Verteilung von Spendengütern. Die Zentrale des Roten Kreuzes in Bonn hat mich dann beauftragt, alle anderen Aufgaben ruhen zu lassen und sofort nach Cighid zu fahren. Wir wollten so schnell wie möglich zumindest eine Grundversorgung für die leidenden Kinder sicherstellen.

Was haben Sie dort erlebt?

Kelbling: Das Kinderheim Cighid befand sich in einem alten, verfallenen Schloss, das auf keiner Karte zu finden war. Von einem Mitarbeiter des örtlichen Gesundheitsamtes habe ich mich dorthin lotsen lassen, die letzten Kilometer ging es über eine holprige Schotterpiste. Das Schloss selbst muss früher einmal schöne Zeiten gesehen haben, ich hatte dort jedoch die schlimmsten Eindrücke meines Lebens.

In welchem Zustand waren die Kinder?

Kelbling: Die Situation war katastrophal. Damals war nur eine einzige Putzfrau vor Ort und 95 Kinder. Ich habe die Kinder untersucht und dabei unbeschreibliche Zustände vorgefunden. Die Kinder lagen in Betten ohne Matratzen, viele waren misshandelt, hatten Blessuren. Ein Mädchen lag auf einem Betonboden hinter Gittern mit der Aufschrift "Izolator", eine Art Gefängnis. Ein anderes Kind war bereits tot. In einem Raum waren die Fenster mit Brettern vernagelt. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass darin drei Betten ohne Matratzen waren, unter den Betten lagen neun Kinder in ihrem eigenen Kot.

Manche bezeichnen Cighid als eine Art Gulag für unerwünschte Kinder. Sollten die Kinder dort durch Vernachlässigung getötet werden?

Kelbling: Diese Einschätzung würde ich bestätigen. Der stellvertretende Chef des Gesundheitsamtes sagte damals: Das ist wie Auschwitz hier. Das klingt mir heute noch in den Ohren. Im Büro des Heims habe ich die Akten durchgesehen und 57 Leichenschauscheine von Kindern gefunden, alle aus einem einzigen Jahr. 57 Tote bei einer Belegung von 97 Kindern - daran sieht man, wie hoch die Überlebensrate der Kinder war. Die Putzfrau hat mir berichtet, dass nie ein Arzt in das Heim kam. Bei jedem Todesfall musste jemand aus dem Heim in die nächste Stadt fahren und vom Arzt einen Totenschein ausstellen lassen. Als Todesursache wurde meist eine Lungenentzündung angegeben.

Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen?

Kelbling: Gleich am ersten Abend haben wir diejenigen Kinder, die unmittelbar vom Tod bedroht waren, in ein Kinderkrankenhaus in der Nähe gebracht. In den nächsten Tagen habe ich dann Krankenschwestern, Putzfrauen und Schreiner angestellt, um  das Heim auf Vordermann zu bringen. Wir haben versucht, alles zu reinigen, die Kinder zu entlausen und mit den nötigen Medikamenten zu versorgen. Hilfsgüter waren übrigens reichlich vorhanden, auch aus Deutschland: Matratzen, Kleidung, Nahrungsmittel. Die Sachen waren jedoch in irgendwelchen Depots versteckt. Vermutlich wollten die Heimangestellten, von denen viele zwangsversetzte Alkoholiker waren, die Spendengüter zu Geld machen.

Wie ging es dann weiter?

Kelbling: Innerhalb von drei oder vier Tagen konnten wir eine Situation geschaffen, in der zumindest kein Kind mehr gestorben ist. In den nächsten Wochen und Monaten ist das Heim dann mit Unterstützung verschiedener Hilfsorganisationen renoviert und in einen vernünftigen Zustand gebracht worden. Inzwischen wurde Cighid als Kinderheim aufgelöst.

kab/news.de