Rente - was nun?: Freizeit durch Arbeit bekämpfen
Von news.de-Redakteurin Isabelle Wiedemeier
10.05.2012 15.00
Frei haben wir alle gern - und hätten es am liebsten viel mehr. Aber, mal ehrlich: Die meisten von uns definieren sich trotzdem zu einem Großteil durch ihre Arbeit. Doch es gibt einen Moment im Leben, da wird auf einen Schlag jeder arbeitslos. Nicht, weil er Betriebsinterna ausgeplaudert hat, weil das Unternehmen sparen muss oder dem Chef die Nase nicht mehr gefällt. Man wird einfach nur 65 und ist Rentner.
Jetzt passiert vieles zum letzten Mal. Zum allerletzten Mal geht die Bürotür zu, legt man den Schraubenschlüssel aus der Hand, steigt aus dem Führerhäuschen der Straßenbahn. Um 6 Uhr aufstehen gehört der Vergangenheit an - aber ältere Leute schlafen doch gar nicht mehr so viel! Endlich ist genug Zeit da, die Hobbies zu pflegen – welche? Und jeder kann tun, was er schon immer tun wollte – was ist das? Na, dann eben den ganzen Tag lang nichts tun – da werd ich ja depressiv!
Alfred Korte hat es noch härter getroffen, zugegebenermaßen freiwillig. Mit 58 Jahren ging er durch Altersteilzeit in Frührente. Bei deutschen und amerikanischen Unternehmen hatte er im Management gearbeitet, «ich war seit meinem 19. Lebensjahr immer unterwegs.» Das erste Jahr zuhause sei ihm deshalb wie Urlaub vorgekommen. In seinem Haus im Taunus gab es einiges zu werkeln. Doch nach einem Jahr war das erledigt. «Dann habe ich gedacht: Das kann doch nicht alles gewesen sein», erzählt Korte, der mit 66 Jahren wieder eine 50-Stunden-Woche hat.
Die Rente ist da - und der Mann stirbt
Auch Marion Schulze verspürte kein dringendes Bedürfnis nach leerer Zeit. Sie hätte mit 65 Jahren einfach weitergearbeitet in ihrem Beruf als Speditionskauffrau. «Aber ich bin ausgeschieden, weil mein Mann es nicht mehr so gerne wollte. Es war ihm zu unruhig», erzählt sie zehn Jahre danach. Die beiden hatten gemeinsam noch einiges vor. «Doch dann starb er von heute auf morgen, ich habe gar nicht damit gerechnet.» Plötzlich war sie allein und hatte unendlich viel Zeit. Ihre Söhne leben in Mainz und Düsseldorf, weit weg von Bremen. «Es geht darum, für sich nicht zu akzeptieren, dass man in ein Loch fällt», erklärt Marion Schulze den Moment, an dem man sich aufraffen muss. Und das hat sie getan. Nichts zu tun hätte sie in Panik versetzt.
Alfred Korte hatte die Frage, was «danach» kommt, immer verdrängt. «Ich war fit genug, und dachte, ich könnte noch um die Welt radeln. So etwas in diese Richtung hatte ich mir vorgestellt.» Aber der Frührentner Alfred Korte entschied sich anders und schrieb sich an der Uni Frankfurt für das ein, was den Betriebswissenschaftler immer schon interessiert hatte: Alte Geschichte, Philosophie und Psychologie im Seniorenstudium.
Marion Schulze pickte sich einen Internetkurs beim Bremer Seniorenbüro aus dem Fundus der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber anstatt sich mit ihren neu erworbenen Kenntnissen zuhause hinter dem PC zu verschanzen, stieg sie beim Bremer Seniorenbüro mit ein und hat seit acht Jahren wieder einen Job als Buchhalterin.
Alt hilft Jung
Dass Rentner das haben, was den meisten anderen fehlt, ist nichts Neues und deshalb längst institutionalisiert. 1992 schob das Bundesministerium für Familie und Senioren das Modellprogramm Seniorenbüro an, um alten Leuten das Ehrenamt nahe zu bringen. 250 Büros haben die Kommunen seitdem in ganz Deutschland eröffnet, tausende Rentner arbeiten mit, füllen ihre Zeit sinnvoll und verlangen kein Geld dafür – sie haben ja ihre Rente. Allerdings ersetzen sie damit auch bezahlte Arbeitsplätze, mahnt Hanne Schweizer, die das Kölner Büro gegen Altersdiskriminierung leitet. «Viele Leute, die ein politisches Bewusstsein haben, sagen, «ich bin nicht der Lückenbüßer für verfehlte kommunale Haushaltspolitik» und machen lieber selbstständig etwas», erklärt sie.
Nach zehn Semestern an der Uni Frankfurt hat Alfred Korte nochmal umgesattelt und sogar einen Bewerbungsprozess durchlaufen – allerdings doch wieder in seiner traditionellen Domäne, der Wirtschaft. Heute ist er einer von 32 Wirtschaftspaten, die junge Unternehmer beraten.
Alt hilft Jung heißt die bundesweite Initiative, der die Wirtschaftsplaner angeschlossen sind und in der insgesamt 650 Senioren arbeiten – unentgeltlich, versteht sich. 20 Euro pro Stunde kassieren die Berater trotzdem, «aber eine Stunde hat bei mir oft 120 Minuten», sagt Korte mit einem Augenzwinkern. Mit den Einnahmen finanzieren sie den Verein und ein Schulprojekt, bei dem Kinder mit unternehmerischem Denken vertraut gemacht werden.
«Jeder Mensch braucht eine Aufgabe, es ist egal, ob es Kindererziehung oder Kochen ist. Wir haben unsere Aufgabe darin, dass unsere Erfahrung nicht verloren geht», findet Alfred Korte. Morgen ist er wieder den ganzen Tag ausgebucht, weil er ein Seminar gibt. Manchmal hätte er doch gern ein bisschen mehr Zeit für sich und seine Frau. «Aber mein Problem ist: Ich kann nicht nein sagen.» Dennoch ist man sich bei den Wirtschaftspaten einig, dass man irgendwann den Absprung finden muss. «Eine erste Grenze ist 70. Unser ältestes Mitglied ist 75, aber man würde ihn nicht darauf schätzen. Es hält ja auch jung.»
reu/news.de