Prostitution: «Ich wollte mich sexuell engagieren»
Von news.de-Redakteurin Isabelle Wiedemeier
21.04.2012 12.00
Der Wind fegt die Informationskärtchen vom Tisch und schlägt den Eimer mit den Lilien um. Der vorbeischlendernde Berlin-Tourist fragt sich nicht, warum hier, vor der Kirche beim Nollendorfplatz, Tische und Bänke stehen und sich jeder Kuchen und Häppchen nehmen darf. Könnte ein Gemeindefest sein.
Nebenan ist die Kurfürstenstraße, der Straßenstrich, wo Nadine und ihre Freundin anschaffen. Sie sind herübergekommen, man kann sitzen, kurz abschalten. Für Französisch nehmen die beiden 30 Euro, Verkehr kostet 50. «Für den eigenen Körper viel zu wenig», sagt Nadine.
Ihre Augen sind ein bisschen rot, schwarz umrandet und müde. Sie ist sicher jünger, als sie aussieht, ihre Zähne sind schlecht, die Tätowierung auf dem Oberarm kein Meisterwerk. Das hier ist kein Gemeindefest im eigentlichen Sinne. Streetworker und die Beratungsstelle für Prostituierte Hydra haben zu einem kleinen Treffen eingeladen. Wollen sich der Öffentlichkeit zeigen.
Am Nachbartisch steht eine sehr schlanke Frau in schwarz, mit Korsage, dunkler Sonnenbrille, die Lippen umrandet. Sie sieht jünger aus, als sie ist. Vera richtet ihr Programm danach, was der Kunde ihr hinlegt. Für 100 Euro bekommt er eine halbe Stunde. «Ich habe diese bürgerliche Sichtweise nie geglaubt, dass das alles ganz schrecklich ist. Es faszinierte mich, mir war klar, das müssen tolle Leute sein», sagt sie über ihre Arbeit.
Mit 50 gab die Marketingleiterin eines Rundfunksenders der Faszination nach und wurde Domina. Das ist jetzt 14 Jahre her, und sie hat es nie bereut, nie miese Erfahrungen gemacht. «Viele haben mir gesagt, das hast du doch gar nicht nötig, du mit deinen Begabungen.» Aber die haben nicht verstanden, dass die Sexarbeit ein Weg ist, sich zu verwirklichen. «Für mehr Leute als man denkt.»
Wege in diese Arbeit gibt es so viele wie Charaktere. Natürlich sind da die Mädchen aus instabilen Verhältnissen, mit mangelndem Selbstbewusstsein, räumt Vera ein. Aber man trifft auch die begabte Frau, die in ihrer Jugend nicht gefördert wurde. «Die sind permanent unterfordert und gelangweilt», meint sie. Und wollen Dinge erleben, die nicht alltäglich sind.
Lolette trägt grün glitzernde High Heels und hat lange als Sekretärin gearbeitet. Mit 50 siegte ihre Neugier auf das Leben als Hure. «Ich wollte mich sexuell engagieren», beschloss sie vor neun Jahren. Sie fand einen Puff für ältere Prostituierte. Dort konnte sie erstmal anfangen.
«Früh zuhause raus, Probleme, keine Unterstützung von den Eltern, von einem Freund zum anderen.» Deshalb ist Nadine vor 14 Jahren auf der Straße gelandet, zusammen mit ihrer besten Freundin. Bei der wohnt sie derzeit, weil sie keine eigene Bleibe hat. «Eigentlich schweißt die Straße nicht zusammen. Im Gegenteil. Es gibt hier nicht viele Freundschaften», sagt sie.
Rund 50 Frauen teilen sich den Strich an der Kurfürstenstraße, sie wechseln ständig. Besonders groß ist der Groll auf die «Bulgarenweiber», wie Nadines Freundin sie nennt. «Die machen es für 15 Euro ohne Schutz, das macht die Preise kaputt», schimpft sie. Das dicke Geld kann man hier schon lange nicht mehr machen. «Seit dem Euro» ist es anders, sagt Nadine. Vorher bekam sie 120 Mark.
Drei Jahre lang hat sie gar nicht gearbeitet. Lebte von Hartz IV und Erziehungsgeld. Ihre beiden Kinder sind zehn und zwei Jahre alt und leben beim Vater im Libanon. Nadine erzählt, sie hatte in Berlin Stress mit der Polizei und durfte das Land nicht verlassen. Da hat sich ihr Mann von ihr getrennt. Jetzt sind auch die Kinder weg.
Von 20 Uhr bis 3 oder 4 Uhr morgens steht sie an der Kurfürstenstraße. Nicht für jede, die auf den Strich geht, ist das die letzte Alternative, betont Vera. «Man muss davor warnen, immer Mitleid zu haben.» Viele treibe ein undifferenziertes Freiheitsbedürfnis auf die Straße oder Geldgier. Bei den Frauen, denen es richtig dreckig geht, seien normalerweise Drogen der primäre Grund dafür, nicht die Prostitution, mit der sie die Drogen finanzieren.
Auch wegen der Unabhängigkeit, der freien Arbeitszeiten, stehen viele an der Straße, statt ins Bordell zu gehen. Ganz normale Frauen, intelligente Frauen, die nicht alkoholabhängig sind, betont Lolette. Mütter, die ihre Kinder zur Schule bringen. Studentinnen, die sich austoben wollen. Und natürlich Geld verdienen. «Die Zeit der Brillantringe ist allerdings vorbei», sagt Lolette. Für ein normales Gehalt aber reicht es noch, zumal es in Berlin wenige Zuhälter gebe. Mit den Frauen aus Osteuropa allerdings sind es mehr geworden, «die können kein Deutsch und glauben, darauf angewiesen zu sein», meint Lolette.
Sie hat sich gegen die Straße entschieden und auch dagegen, weiter für einen Bordellbetreiber zu arbeiten. Der bietet zwar Schutz, schreibt aber auch die Arbeitszeiten vor und kassiert mit ab. Rechtlich gesehen könnte er seine Frauen anstellen, ihnen dadurch zum Beispiel Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bescheren. «Aber das machen Puffbesitzer nicht», sagt Lolette.
Wenn es richtig läuft, haben Prostituierte ein Gewerbe angemeldet, sind selbstständige Erwerbstätige. So wie Lolette. Sie hat sich eigene Räume angemietet, ihr eigenes Wohnungsbordell eingerichtet, wo sie ihre eigene Herrin ist. Und macht das weiter, bis zur Rente in fünf Jahren. Oder solange Kunden kommen.
Wer es sich leisten kann, wie auch Domina Vera, bestimmt im Sexgewerbe selbst, wo es langgeht. Bei ihr gibt es keinen Körperkontakt, keinen Sex. Doch die Prostitution an sich sei ein Feindbild für viele Menschen. «Sie wollen nicht dahintersehen. Aber wenn man die Würde bewahren kann, ist sie eine Möglichkeit, interessante Menschen zu treffen oder das Studium zu finanzieren. Viele jetten durch die Welt und haben einen Horizont, der ihnen im Durchschnittsleben nicht zur Verfügung stünde», sagt Vera. Ihre Würde müssen sie nicht nur vor Freiern, Zuhältern und Bordellbetreibern verteidigen, sondern auch vor dem Moralverständnis der meisten Leute.
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