Verdauung: Wenn der Darm zum Hirn spricht
Von news.de-Redakteur Andreas Schloder
21.03.2019 15.12
Der Darm ist ein Hochleistungsorgan – ihm wird viel abverlangt: «Über 30 Tonnen Nahrung und 50.000 Liter Flüssigkeit werden im Lauf eines Lebens im Verdauungstrakt verarbeitet», erklärt Umweltmediziner und Buchautor Klaus-Dietrich Runow aus Wolfshagen bei Kassel. «Er analysiert Nährstoffzusammensetzung, Salzgehalt und Wasseranteil und koordiniert, was der Körper [tt=aufnimmt]absorbiert und was er ausscheidet», so der Experte vom Institut für Umweltmedizin (IFU).
Doch der Darm ist mehr als nur eine «Fressmaschine». Runow bezeichnet ihn als Bauchhirn, was an diesen Zahlen deutlich wird: Das bis zu sechs Meter lange Organ beinhaltet mehr Nervenzellen als das Rückenmark - bis zu 100 Millionen befinden sich in der Darmwand. 90 Prozent davon führen zum Gehirn. Nur zehn Prozent kommen von der Denkstation. Nicht umsonst hat Runow dem Organ ein Buch mit dem Titel Der Darm denkt mit gewidmet.
«Gefühle wie Glück, Trauer und Hass spüren wir zuerst im Darm, unserem zweiten Gehirn», verdeutlicht Runow, der seit 25 Jahren Patienten mit chronischen Darmerkrankungen, Nahrungsmittelallergien und neurologischen Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Depressionen behandelt. Der Darm ist die Verteidigungsbasis des Menschen. Wenig bekannt sei dem Umweltmediziner zufolge die massive Kommunikation zwischen den Nervenzellen und dem Immunsystem. 70 Prozent davon befinden sich im Verdauungstrakt, der immerhin eine Oberfläche von bis zu 400 Quadratmeter einnimmt. Doch was hat der Darm mit Depressionen und Schizophrenie zu tun?
«Im Darm finden wir neben den Nervenzellen weitere Zellen, die Auswirkungen auf andere Organe im Körper haben», so Runow. Dabei handle es sich unter anderem um die sogenannten [tt=Die Mastzellen gehören zur körpereigenen Abwehr. In ihnen steckt der eiweißhaltige Stoff Histamin, der bei einer allergischen Reaktion ausgeschüttet wird.]Mastzellen sowie [tt=T-Zellen gehören zum Abwehrsystem des Körpers. Sobald ein Krankheitserreger erkannt ist, wird er von ihnen bekämpft.]T-Zellen. «Diese können [tt=Ein eiweißhaltiger Abwehrstoff, der bei Allergien ausgeschüttet wird. ]Histamin, [tt=Botenstoff des Körpers, der die Stimmung hebt.]Serotonin und andere entzündungsfördernde Zellbotenstoffe freisetzen und somit ebenfalls Gehirnsymptome wie Depressionen, Aggressivität, Hyperaktivität und [tt=eine psychisch bedingte Persönlichkeitsstörung]Schizophrenie auslösen oder verstärken», fügt der Experte hinzu.
Schizophren durch Käsebrötchen
Wie das in der Praxis aussieht, zeigt dieser Fall: Runows Sprechstunde betrat ein 24-jähriger, kräftig gebauter Mann, der zu dem Zeitpunkt mit Psychopharmaka behandelt wurde und eine Nahrungsmittelunverträglichkeit als Anlass für seine psychotischen Störungen ausschließen wollte. Er kam nüchtern zur Untersuchung, was es aber nicht gebraucht hätte.
Daraufhin verspeiste er in der Praxis ein mitgebrachtes Käsebrötchen. «Der vorher völlig normal erscheinende Mann veränderte sein Wesen innerhalb von 30 Minuten so sehr, dass ich an eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik dachte», erinnert sich Runow. Der Patient hörte eine Stimme, die ihn aufforderte, die neben ihm sitzende Mutter zu würgen. Um dies aber zu verhindern, würgte der 24-Jährige sich selbst.
Runow wurde stutzig und hatte das Käsebrötchen als Auslöser in Verdacht. Und tatsächlich: Der Körper reagierte allergisch darauf, was eine starke Histaminausschüttung zur Folge hatte. Erst durch eine Spritze mit [tt=Wirkstoffe gegen den körpereigenen Botenstoff Histamin. Dieser wird bei einer allergischen Reaktion freigesetzt und sorgt für die unangenehmen Schwellungen.]Antihistaminikum bekam der Mann die Orientierung wieder zurück und wurde ruhig. Dies ist zwar der spektakulärste Fall, aber nicht der einzige, der den Experten in Sachen Unverträglichkeit herausforderte.
Drogen aus Weizenkörnern
Der Darm kämpft an zwei Fronten: Zum einen siedeln sich im Laufe der Zeit bis zu 1000 verschiedene Mikroorganismen im Darm an. «Insgesamt können diese ein Gewicht von einem Kilogramm ausmachen. Man geht davon aus, dass 20 Prozent unserer verzehrten Nahrung als Nährstoff für die Bakterien gelten», schildert der 56-Jährige. Zum anderen muss das Organ Nahrungseiweiße und -fette verwerten.
Die meisten Probleme bereiten dabei die Zöliakie, die Unverträglichkeit von Getreide, sowie die Laktoseintoleranz, die Unverträglichkeit von Milch. Beide können unter anderem zum Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom führen. Bei einer gestörten Verdauung werden aus Nahrungseiweißen Stoffe gebildet, die eine opiatähnliche Wirkung haben. Dies führe zu mangelnder Aufmerksamkeit.
Ist eine chronische Erkrankung durch einen Urin-, Blut- oder Stuhltest erkannt, empfiehlt der Umweltmediziner das sogenannte 4-R-Programm: [tt=Weglassen]Remove, [tt=Ersetzen und hinzufügen]Replace, [tt=Neubesiedelung]Reinoculate, [tt=Reparatur]Repair. Im ersten Schritt wird darauf geachtet, die Nahrungsmittel, auf die Betroffene allergisch reagieren, komplett zu meiden. Im zweiten Schritt wird die Verdauung durch Enzyme unterstützt, denn der Körper produziert mit zunehmendem Alter immer weniger davon. Die Enzyme helfen aber auch, die Magensäure anzuregen und Umweltgifte wie Metalle zu neutralisieren.
Ist dies geschafft, versucht der Therapeut durch Bakterienstämme wie [tt=Milchsäurebakterien]Laktobazillen die Darmflora wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Letzter Schritt ist laut Runow, die Darmschleimhaut zu reparieren. Wie seinen Angaben zufolge im Wissenschaftsmagazin Medical Science Anfang 2011 veröffentlicht wurde, kann eine erhöhte Dosis an Vitamin C die Entgiftung beschleunigen. Dies sei ebenfalls bei Lakritz zu erkennen.
Lesetipp: Der Darm denkt mit - Wie Bakterien, Pilze und Allergien das Nervensystem beeinflussen, Klaus-Dietrich Runow, 176 Seiten, Südwestverlag, Preis 14,99 Euro.
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