Gesundheit

Form der Magersucht: Die Jagd nach gesundem Essen

Orthorektiker suchen ihre Lebensmittel penibel aus. Der Einkauf kann da schon mal zwei Stunden dauern. Bild: istockphoto

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Martina R. beschäftigt sich den ganzen Tag mit gesunder Ernährung. Sie unterteilt streng in «gute» und «schlechte» Lebensmittel. An ihrem Kühlschrank hängt eine Liste mit ungesunden E-Nummern und Beispielen, in welchen Lebensmitteln sie stecken können. Gleich daneben hängt eine Tabelle mit Produkten, die sie essen kann. Sie ist sehr kurz.

Die junge rothaarige Frau aber ist dünn, zu dünn. Ihr Gesicht wirkt fahl, ihre Haut ist trocken und ihr Haar spröde. Dennoch fühlt sie sich kerngesund. Denn: Sie isst nur superfrisches Bio-Gemüse und Obst, schrotet ihr Getreide selbst und passt darauf auf, wie viel Fett sie zu sich nimmt. Ihr käme es gar nicht in den Sinn, dass an ihrem Verhalten etwas falsch sei, mit ihr etwas nicht stimmt. Martina R. gehört zur wachsenden Zahl der Frauen, die an Orthorexie leiden und es selbst nicht merken.

Unterform der Magersucht

An einer gesunden Kost ist generell nichts auszusetzen. Problematisch wird es, wenn eine Besessenheit von gesundem Essen dazukommt. «Die Übergänge zwischen einem gesunden Essverhalten und einer Essstörung sind jedoch fließend», erklärt Diplom-Psychologin Dr. Karin Lachenmeir vom Therapie-Centrum für Essstörungen München. Es sei sehr schwer festzustellen, ab wann das Ganze kippt.

Der Begriff Orthorexie wurde 1997 vom US-amerikanischen Arzt Stephen Bratman begründet und bedeutet so viel wie «der richtige Appetit». Lachenmeir zufolge handelt es sich bei der Orthorexie um eine Unterform der [tt=Krankhafte Essstörung, die einhergeht mit einem starken, selbst verursachten Gewichtsverlust.]Magersucht. «Orthorektiker haben eine sehr eingeschränkte, selektive Nahrungsmittelauswahl. Sie sind darauf fixiert, nur Lebensmittel zu sich zu nehmen, die sie selbst als gesund definieren. Sie stellen auch Verbote auf», so die Psychologin.

Betroffene meiden Ungesundes wie Süßigkeiten, fette Wurst, Pommes und Burger wie der Teufel das Weihwasser. Den ganzen Tag kreisen die Gedanken darum, was sie wann essen. So achten Orthorektiker schon beim Einkauf penibel darauf, ob die Lebensmittel von guter Qualität sind, ob Nüsse beispielsweise von Schimmel befallen sind. Sie studieren stundenlang die Zutatenlisten und Nährwerttabellen von Produkten und sortieren alles aus, was E-Nummern und andere Zusatzstoffe enthält. Da kann ein Besuch im Supermarkt schon mal zwei Stunden dauern.

«Die Orthorexie betrifft hauptsächlich Frauen. Es gibt aber durchaus auch Männer, die ein orthorektisches Essverhalten aufweisen», berichtet Lachenmeir. Gefährdet seien insbesondere Jugendliche und Kinder.

Besser-Esser sind Besser-Wisser

Orthorektiker sind meist sehr gut informiert. So lesen sie beispielsweise ernährungswissenschaftliche Texte. Allerdings: «Trotz der hohen Informiertheit haben sie oft ein verzerrtes Wahrnehmungsbild. Denn sie fokussieren immer nur einen Aspekt der Ernährung. Das wiederum führt zu einer sehr einseitigen Ernährung und Gewichtsabnahme», erklärt die Therapeutin.

Teilweise fühlen sich Orthorektiker anderen gegenüber auch überlegen. «Sie haben ein Gefühl von Stärke, Macht und Disziplin. Sie meinen, sie schaffen etwas, was andere nicht schaffen, wie etwa Diät zu halten», so Lachenmeir.

Erhalten sie keine Anerkennung für diese Leistung, kann sich das Essverhalten noch weiter negativ verstärken. Sie flüchten in eine Art innere Emigration. «Die Orthorexie hat zwanghafte Züge. Die Betroffenen beschreiben das selbst oft als eine Art Getriebenheit. Manchmal haben sie sogar den Wunsch, sich auch mal ein Stück Torte gönnen zu dürfen. Sie machen es jedoch nicht», beschreibt Lachenmeir das Verhalten. Der Leidensdruck wächst durch dieses innere Verbot.

Verlieren sie jedoch die Kontrolle über sich selbst, wird die Abweichung vom Essverhalten als Versagen empfunden und das löst große Ängste und Schuldgefühle aus. Orthorektiker halten danach noch strikter Diät, um Fehlverhalten wieder gut zu machen.

Wie Betroffenen geholfen werden kann.

Ängste und Depressionen

Hinter dem Zwang, gesund zu essen, stecken oft tief verwurzelte Ängste, Zwänge oder Depressionen: «Die Orthorexie ist eine psychische Erkrankung, die oft einhergeht mit weiteren psychischen Störungen», so Lachenmeir. Die Symptome können sich dabei gegenseitig noch verstärken.

Manchmal sind die Ursachen in der Familie begründet: Ein hoher Leistungsanspruch, ein enger Familien-Zusammenhalt und die Abgrenzung nach außen können die Orthorexie beeinflussen. «Es kommt nicht selten vor, dass in den Familien Schlankheit, Attraktivität, Fitness und Diäten als Tugenden hochgehalten werden. Es genügt auch schon, dass der Vater die Figur der Mutter kritisiert oder die Mutter regelmäßig Diät hält. Dies kann sich in den Köpfen der Kinder festsetzen», erklärt Lachenmeir. Gefährdet seien aber auch Personen, bei denen die Eltern selbst psychische Störungen haben oder von Suchtmitteln abhängig sind.

Häufig sind Orthorektiker Perfektionisten, die einen hohen Leistungsanspruch haben und ein geringes Selbstwertgefühl. Meist haben sie ein großes Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstbestimmung. Dem gegenüber steht die Erfahrung, bestimmte Dinge im Leben nicht beeinflussen zu können.

Nicht immer merken die Betroffenen, dass sie krank sind. «Sie haben oft ein verzerrtes Selbstwahrnehmungsbild. Selbst wenn Außenstehende sagen, sie seien viel zu dünn, empfinden sie sich immer noch als viel zu dick», so Lachenmeir. Es gäbe aber auch Magersüchtige, die sich zu dünn finden und wissen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. Doch die Angst vor den verbotenen Lebensmitteln sei zu groß, als dass sie etwas ändern könnten.

Die schlimmen Folgen

In dem Moment, wo das Essverhalten zwanghaft wird und immer mehr Lebensmittel durch das Raster fallen, wird es gefährlich. Denn der Körper braucht neben gesunden Vitaminen und Ballaststoffen auch Nährstoffe wie Fett und Kohlenhydrate. «Eine einseitige Ernährung führt langfristig zu Mangelerscheinungen und Untergewicht», sagt die Therapeutin. Es komme auch vor, dass das orthorektische Essverhalten in eine [tt=Als Ess-Brech-Sucht bezeichnete Essstörung.]Bulimie kippt, weil die Betroffenen das restriktive Verhalten nicht mehr durchhalten können.

Die Betroffenen nehmen zudem kaum noch am sozialen Leben teil. Besuche bei Freunden oder Familie werden immer seltener. Sie sagen Einladungen ab, weil sie Angst davor haben, nichts essen zu können oder weil sie auf das eigene Verhalten nicht angesprochen werden möchten. Martina R. beispielsweise fürchtet sich davor, dass Glutamat im Essen ist. Orthorektiker leben nur noch für ihre Krankheit. Die bittere Konsequenz: Sie vereinsamen.

Endlich wieder Schokolade

Orthorektikern wie Martina R. kann sehr gut geholfen werden. «Die Psychotherapie in Kombination mit einem ernährungstherapeutischen Konzept ist die beste Hilfe», weiß Lachenmeir. Im Therapie-Centrum für Essstörungen in München werden die Patienten in Wohngruppen betreut. Sie müssen an einem sehr strikten Esskonzept teilnehmen: Sie erhalten sieben Mahlzeiten am Tag, die in der Gruppe eingenommen werden. «Damit versuchen wir, die Nahrungsmengen wieder auf ein normales Maß zu bringen», so die Psychologin.

Auf der anderen Seite spielt die Lebensmittelauswahl eine sehr große Rolle. Lachenmeir: «Als Therapeuten legen wir sehr viel Wert darauf, dass die Betroffenen aus dem ganzen Spektrum der Lebensmittel auswählen. So stehen einmal am Tag Obst, einmal Milchprodukte und einmal Süßigkeiten und Knabberzeug auf dem Speiseplan. Es gibt keine verbotenen Lebensmittel. Mittags darf auch mal ein Schnitzel mit Pommes gegessen werden.»

Die Therapie ist in zwei Phasen gegliedert. Die erste Phase ist die Intensivphase. Diese ist mit einer stationären Therapie in einer Klinik vergleichbar. Es gibt den ganzen Tag therapeutische Angebote für die Patienten. Die Phase ist im Schnitt auf vier Monate angelegt. Die Entscheidung zu essen wird den Patienten abgenommen und ist deshalb eine große Erleichterung, da sie entlastet. Später lernen die Betroffenen ihren Ernährungsplan wieder selbst zu planen - ganz ohne Anleitung und Vorgabe.

«Die Therapie in der Gruppe ist sehr wichtig. Denn: Alle Teilnehmer sitzen im gleichen Boot. Das motiviert, da essen leichter fällt, wenn auch die anderen mitmachen», berichtet die Therapeutin.

In der Stabilisierungsphase wohnen die Patienten weiter in der Wohngruppe, sind aber wieder in ihren normalen Alltag eingebunden. Sie gehen also wieder zur Arbeit oder in die Schule. Das Therapieangebot ist reduziert. Die Erfolgsaussichten sind gut. Etwa jeder zweite Patient wird wieder gesund. Bei Kindern und Jugendlichen liegen die Heilungsquoten bei bis zu 75 Prozent.

sua/reu/news.de

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