Gesundheit

Scheidenaplasie: Endlich eine ganz normale Frau

Eine Scheidenaplasie wird bei Mädchen meist im Verlauf der Pubertät festgestellt. Je nach Ursache ist jedes 2500. bis 25.000 Mädchen betroffen. Bild: Istockphoto

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Kira ist 14, als sie merkt, dass etwas nicht mit ihr stimmt. «Meine jüngere Schwester, meine Freundinnen – alle hatten bereits ihre erste Periode. Nur meine blieb aus», sagt sie. Beim Frauenarzt erfährt sie den Grund: Ihre Gebärmutter besteht nur aus zwei dünnen Gewebesträngen. Ihre Vagina ist kaum vorhanden, der Scheideneingang endet in einer kleinen Mulde. Die Diagnose: Scheiden- beziehungsweise Vaginalaplasie.

Normalerweise bildet die Scheide zusammen mit der Gebärmutter, den Eileitern und den Eierstöcken die inneren Geschlechtsorgane der Frau. Als etwa acht bis zwölf Zentimeter langes und zwei bis drei Zentimeter breites, schlauchförmiges Organ verbindet sie das äußere Genital der Frau mit der Gebärmutter.

Bei der Scheidenaplasie erscheint die Scheide äußerlich normal. Sie endet jedoch blind in einer unterschiedlich tiefen Grube. Die Gebärmutter kann fehlen oder nur unvollständig ausgebildet sein. Meist ist die Scheidenaplasie das Symptom von Erkrankungen wie dem Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH), dem Swyer- oder Turner-Syndrom sowie der Testikulären Feminisierung. Abhängig vom Syndrom ist jedes 2500 bis 25.000 Mädchen betroffen.

Entwicklungsstörung im Mutterleib

«Die Fehlbildung ist angeboren und geht auf eine Entwicklungsstörung im Mutterleib zurück», erklärt Dr. Sara Brucker, Oberärztin an der Universitäts-Frauenklinik Tübingen. «Viele Mädchen erfahren erst davon, wenn sie ihre erste Regelblutung nicht bekommen oder Geschlechtsverkehr unmöglich oder schwierig ist.» Genau wie die Mädchen leiden dann oft auch deren Mütter, weil sie glauben, sie hätten sich während der Schwangerschaft falsch verhalten, berichtet Brucker. Das sei ebenso wenig auszuschließen wie eine Vererbung, sagt die Ärztin. Einer Scheidenaplasie könne man auch nicht vorbeugen.

Kira spricht von einer «Laune der Natur», die sich etwa in der siebten oder achten Schwangerschaftswoche ihrer Mutter ereignet haben muss. Ein winziger «Programmierfehler», unbemerkt von Ultraschall und Blutanalysen. Vielleicht ist die Ursache ein Östrogenmangel bei der Mutter, vielleicht ist die Unstimmigkeit aber auch bereits in den Genen des Embryos angelegt. Genau wissen es die Ärzte nicht. «Sicher ist, dass die zwei parallelen Gewebestränge, die sich hätten verbinden und öffnen und die so die Vagina und den Uterus hätten bilden sollen, dass diese Müllerschen Gänge sich bei Kira nicht weiterentwickelten. Keine Vagina, kein Uterus, nur zwei dünne Gewebestränge», erklärt Brucker.

Ohne Therapie kein Geschlechtsverkehr

Bei Kira hat das MRKH-Syndrom die Scheidenaplasie ausgelöst. Nur eines von 5000 Neugeborenen ist pro Jahr in Deutschland davon betroffen. «Ausgerechnet mich trifft diese Krankheit», sagt Kira. Als sie davon erfährt, hat sie das Gefühl, als zöge ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Und ein wenig geschämt habe sie sich auch, erinnert sich die inzwischen 19-Jährige. Nur ihren besten Freundinnen habe sie erzählt, was mit ihr los ist. Vor den Eltern spielt sie die coole Tochter, die die Erkrankung gelassen hinnimmt. In Wahrheit bringt die Diagnose ihre Zukunftspläne durcheinander. Sie wird niemals Kinder bekommen können, sagen ihr die Ärzte. Kira ist geschockt: Aus all ihren Träumen soll nichts werden. Stattdessen hat sie ein Syndrom, von dem sie noch nie etwas gehört hat.

Ohne Therapie, auch das erfährt Kira, bleibt die Scheidenaplasie lebenslang bestehen – und mit ihr die Folgen: niemals Geschlechtsverkehr. «Das ist für ein Mädchen, das gerade dabei ist, seine eigene Sexualität zu entdecken, sehr belastend», sagt Brucker. Die Medizinerin leitet die sogenannte Neovagina-Sprechstunde an der Uniklinik in Tübingen, die drei Ziele verfolgt: die betroffenen Mädchen und Frauen darüber aufzuklären, unter welcher Erkrankung sie leiden und was dies für ihr Leben und ihre Sexualität bedeutet; sie psychologisch zu betreuen und ihnen eine Operationsmethode vorzustellen, die ihnen zu einer neuen Scheide (Neovagina) verhilft.

Wie von weit weg hört Kira, wie die Ärztin erklärt, dass es verschiedene Möglichkeiten gebe: ein Stück Darm herausschneiden und zur Scheide machen; die kleine Mulde so weit dehnen, dass Geschlechtsverkehr möglich sei; eine Scheide aus dem vorhandenen Gewebe bilden.

Die Tübinger Ärzte verhelfen Mädchen, die wie Kira unter einer Scheidenaplasie leiden, schon seit Jahren erfolgreich zu einer neuen Vagina - unter anderem mittels einer minimalinvasiven Dehnungsmethode. Das Prinzip besteht laut Brucker in einer allmählichen Dehnung der vorhandenen Scheidengrube. Dazu führt der Arzt ein sogenanntes Steckgliedphantom in die Scheidengrube ein. An der Spitze des Phantoms entspringen zwei Fäden, die mittels Bauchspiegelung durch die Scheidengrube in den Bauchraum und schließlich wieder nach außen durch die Bauchdecke geführt werden. Auf Nabelhöhe verbindet der Operateur die Fäden mit einem Spannapparat. Dieser ermöglicht es, die Fäden immer unter Zugspannung zu halten. Durch den stetigen Zug wird das Steckgliedphantom nach innen gezogen, so dass sich die Scheidengrube kontinuierlich auf eine Länge von zehn bis zwölf Zentimetern verlängern kann.

Die Dehnung dauert nur wenige Tage, erläutert Brucker. Steckgliedphantom und Spannapparat werden dann wieder entfernt. Und damit sich die Scheide nicht wieder verkürzt, muss die Patientin für einige Monate ein sogenanntes Scheidenphantom tragen. Es wird täglich gereinigt und mit einer östrogenhaltigen Salbe beschichtet, damit das Einführen in die Scheide leichter fällt.

Die Neovagina reagiert wie eine normale Scheide

An der Uniklinik Tübingen wurden inzwischen mehr als 100 Patientinnen nach dieser Methode operiert. «Geschlechtsverkehr ist bereits nach vier Wochen problemlos möglich», sagt Brucker. «Die Scheide wird dabei feucht und weit wie bei jeder anderen Frau auch.»

Dass sie eine Neovagina haben möchte, ist für Kira von Anfang an klar. Doch sie muss warten, bis sie 18 ist. 90 Minuten dauert die Prozedur, zehn Tage bleibt sie im Krankenhaus. Schon nach zwei Wochen kann sie wieder ein normales Leben führen – und den ersten Sex mit ihrem Freund genießen. «Er war zwar anfangs etwas geschockt, als er hörte, dass ich keine normale Scheide habe», sagt Kira. «Aber das hat sich schnell gelegt.» Dass sie eine Neovagina hat, weiß er, beim Sex spürt er aber keinen Unterschied.

Die 19-Jährige, die sich zur Automobilkauffrau ausbilden lässt, fühlt sich als «ganz normale Frau», auch wenn sie nie ihre Tage bekommen wird. Nur eines stört sie: dass sie keine Kinder bekommen kann, weil ihre Gebärmutter nicht vollständig ausgebildet ist. «Aber ich glaube an die Medizin, vielleicht sind irgendwann einmal Gebärmuttertransplantationen möglich», sagt sie. «Und wenn nicht, dann adoptiere ich eben ein Kind.»

Weitere Informationen gibt es auf dem Informationsportal www.neovagina.de der Universitätsklinik Tübingen.

reu/news.de