Hilfe für Suizidgefährdete: Die Gedanken sind lebensmüde
Von news.de-Redakteurin Katharina Schlager
14.04.2021 15.14
Angehörige trifft die Nachricht von einem Freitod oft völlig hilflos. Dennoch ist der Psychologe Georg Fiedler überzeugt, dass das Vorurteil, dass ein Suizid aus heiterem Himmel kommt, ein Mythos ist. «Es gibt häufig Ankündigungen», so das Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Aber: «Menschen, die einem Suizidgefährdeten nahe stehen, haben es oft schwer zu helfen», sagt Fiedler. Denn der Auslöser für den Freitod steckt oft in den Beziehungen selbst. Deshalb verspreche professionelle und neutrale Hilfe von außen den meisten Erfolg.
Das große Problem: Selbst im Gespräch mit einem Arzt können die Betroffenen das Problem häufig gar nicht richtig artikulieren. Die Gefahr des Freitodes ist somit nicht klar und Hilfsmaßnahmen können gar nicht in Gang gesetzt werden. Dennoch gibt es einige Alarmsignale, die Angehörige aufhorchen lassen sollten. «Wenn sich jemand immer weiter zurückzieht, Beziehungen abbrechen lässt und wenn sich jemand verstärkt mit dem Tod auseinandersetzt, dann sollte man versuchen zu helfen», sagt Fiedler.
Wer dann versucht Kontrolle auszuüben und den Betroffenen geradezu einsperrt, um einen möglichen Suizid zu verhindern, erreicht vermutlich das Gegenteil. Auch einfach alle spitzen Gegenstände oder Tabletten zu verstecken, dürfte nur wenig bringen. «Wer sich wirklich das Leben nehmen will, der kann sich Tabletten auch neu besorgen», gibt der Psychologe zu bedenken.
Stattdessen sollten die Sorgen und Vermutungen idealerweise direkt angesprochen werden. «So könnte man etwa das Gespräch damit beginnen, dass man den Eindruck hat, dass derjenige so wirkt, als wolle er gar nicht mehr leben. Oder von den Sorgen sprechen, die man sich macht», rät Fiedler. Direkt zu fragen, ob jemand seinen Selbstmord plant, wäre dagegen zu sehr mit der Tür ins Haus gepoltert. Egal welches Problem den Betroffenen an den Rand der Lebensmüdigkeit treibt: «Nur nicht trivialisieren», warnt Fiedler. Stattdessen muss man zuhören können und die Krise sehr ernst nehmen. «Das ist die Grundvoraussetzung dafür, helfen zu können.» Wer versucht zu zeigen, dass doch alles gar nicht so schlimm ist, erreicht gar nichts.
Aber: Der Partner, eine Freundin oder die Mutter sind keine Therapeuten und sollten diese Bürde auch nicht auf sich nehmen. «Die Gefahr, dass sich die Ebenen vermischen, ist einfach zu groß.» Stattdessen muss der nächste Schritt sein, sich neutrale Hilfe von außen zu haben.
Statistik hilft im Einzelfall wenig
Es gibt zwar einige Faktoren, die statistisch dafür sprechen, dass jemand besonders suizidgefährdet ist. So etwa psychiatrische Erkrankungen, wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen. Doch das hilft im Einzelfall wenig, sagt Fiedler. Denn nicht jeder, der unter Depressionen leidet, ist suizidgefährdet und nicht hinter jedem Suizid steckt auch eine Erkrankung. «Das macht die Prävention so schwierig», so der Psychologe.
Häufig gehen eine frühere Traumatisierung und eine aktuelle Krise Hand in Hand. Doch was zu einer Traumatisierung in der Vergangenheit geführt hat, ist für Außenstehende nur sehr schwer zu sehen. «Manche Menschen werden durch ganz kleine Kränkungen bereits schwer verletzt, andere verarbeiten selbst massive Gewalterfahrungen vollständig und sind mit sich im Reinen», erklärt der Experte die unmögliche Kategorisierung von gefährdeten Menschen.
Die aktuellen Krisen hängen oft mit Verlusterfahrungen zusammen. Etwa durch eine zerbrochene Beziehung, den Verlust von Autonomie, etwa durch Alter oder Krankheit, oder eine Kündigung. Auch die Pubertät als krisenbehaftete Lebensphase kann Auslöser sein.
«Häufig besteht gar nicht das Problem, dass der Mensch sterben will, sondern, dass er nicht mehr weiß, wie er weiterleben soll», sagt Fiedler. In einer Therapie stelle sich deshalb vor allem die Frage, warum keine andere Möglichkeit als der Tod gesehen wird.
Wo man Hilfe finden kann
Wer sich Sorgen um einen potenziell suizidgefährdeten Menschen macht, über ein Gespräch aber nichts erreichen kann, sollte, auch durchaus ohne den Betroffenen im Schlepptau, eine Beratungsstelle aufsuchen. Fiedler: «Dort kann man dann ganz individuell Wege finden.» Da es nicht überall solch spezialisierte Anlaufstellen gibt, wie sie auf der Seite des Nationalen Suizid Präventionsprogramms aufgelistet zu finden sind, können auch der Hausarzt oder in den Nachtstunden die Abteilung einer psychiatrischen Ambulanz, wie es sie in vielen Krankhäusern gibt, weiterhelfen. Wichtig sei für Angehörige zu verstehen, dass sie keine Schuld an einem Selbstmord tragen. «Dennoch geben sie sich oft die Schuld», habe Fiedler die Erfahrung gemacht.
Jedes Mal, wenn ein Selbstmord prominent und detailliert in den Medien dokumentiert wird, steige zusehens durch Nachahmungstaten die Selbstmordrate. «Das ist der [tt=Es besteht ein kausaler Zusammenhang zwischen Suiziden, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde, und einer Erhöhung der Suizidrate in der Bevölkerung. Der Effekt gründet sich auf eine Selbstmord-Serie nach Erscheinen des Buches ]Werther-Effekt sagt Fiedler. Den Namen bekam das Phänomen durch die ungewöhnliche Selbstmordwelle unter jungen Männer, die Johann Wolfgang von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers im Erscheinungsjahr 1774 auslöste. Der Selbstmord von Nationaltorwart Robert Enke bereitet Fiedler deshalb auch große Kopfschmerzen. «Man kann nicht ausschließen, dass es nun wieder zu gehäuften Suiziden dieser Art kommt», befürchtet er.
Laut DGS tötet sich in Deutschland rein statistisch alle 47 Minuten ein Mensch selbst. Nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes starben im vergangenen Jahr 9331 Menschen durch Selbsttötungen, 2007 waren es 9402 Personen. Die Zahl der Suizidversuche liegt nach DGS-Schätzungen mit etwa 100.000 pro Jahr weit höher. Die Gesellschaft hatte erst kürzlich bemängelt, dass das Problem der Selbsttötung etwa im Vergleich zu tödlichen Verkehrsunfällen, die 2008 bei 4477 lag, viel zu wenig beachtet werde. car/news.de