Das unterschätzte Organ: Wenn die Schilddrüse verrückt spielt
Von news.de-Redakteurin Claudia Arthen
09.08.2019 16.33
Am Anfang denkt Heike Schneider, dass sie einfach nur überarbeitet und gestresst ist. «Mit ein bisschen Ruhe werden sich Herzrasen, überhöhter Puls, Reizbarkeit und Nervosität schon wieder einrenken», glaubt die 32-Jährige. Auch die Bedenken um ihre Heißhungerattacken schiebt sie beiseite. Schließlich wiegt sie gerade mal 48 Kilo bei einer Körpergröße von 1,70 Meter. Und dass ihre Haare ausfallen, macht Heike Schneider auch nicht misstrauisch. «Ich redete mir ein, dass sei normal. Ich hatte ja noch genug auf dem Kopf.»
Monate später kommen weitere Beschwerden dazu. Die junge Frau leidet unter Schweißausbrüchen, Durchfall und bei kleineren Anstrengungen wie Treppensteigen bleibt ihr die Luft weg. «Außerdem bekam ich Panikattacken und dachte, ich müsste ersticken», beschreibt sie die Symptome. Die Ärzte verschreiben ihr Psychopharmaka, die Beschwerden bleiben. Erst ein Jahr später erfährt Heike Schneider, was mit ihr los ist: Sie hat eine Schilddrüsenüberfunktion. Und nachdem eine Ultraschalluntersuchung und eine [tt=Die Schilddrüsenszintigraphie gibt Auskunft über die Funktion der Schilddrüse. Dazu wird eine kurzlebige radioaktive Substanz verabreicht, diese reichert sich in Abhängigkeit von der Schilddrüsenfunktion in der Schilddrüse an, danach wird die Radioaktivität über der Schilddrüse gemessen und wiederum rechnerisch das Bild der Schilddrüse, entsprechend ihrer Fähigkeit, die oben erwähnte Substanz aufzunehmen, rekonstruiert.]Szintigraphie ihrer Schilddrüse angefertigt wird, steht die endgültige Diagnose fest: Morbus Basedow.
Hinter der Bezeichnung verbirgt sich eine autoimmune Schilddrüsenerkrankung, die typischerweise mit einer [tt=Überfunktion bedeutet: Die Schilddrüse bildet zu viele Hormone. Dadurch beschleunigt sich der Stoffwechsel und alle Stoffwechselprozesse laufen schneller ab. ]Überfunktion des Organs und Kropfbildung einhergeht. «Das Immunsystem bildet dabei fälschlicherweise Antikörper gegen das eigene Schilddrüsengewebe, was zu einer Entzündung führt», erklärt Dr. Mathias Beyer, Internist aus Nürnberg und Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Forum Schilddrüse. Die Autoantikörper regen gleichzeitig die Schilddrüsenzellen zu einer ungehemmten Hormonproduktion an, so dass der Organismus permanent auf Hochtouren läuft.
Morbus Basedow ist nur eine von vielen Erkrankungen der Schilddrüse. Das kleine schmetterlingsförmige Organ ist im Normalfall 15 bis 25 Gramm schwer und liegt unterhalb des Kehlkopfes. Obwohl die Schilddrüse im Körper nur wenig Raum einnimmt, entfalten ihre Hormone - darunter Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) - weitreichende Wirkungen. Sie sorgen dafür, dass Nerven- und Muskelsystem reibungslos funktionieren und dass das Herz im Rhythmus schlägt. Weil das fein austarierte Zusammenspiel der Schilddrüsenhormone sehr störanfällig ist, kommt es bei vielen Menschen im Laufe des Lebens zu Entgleisungen.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2004, bei der fast 100.000 Berufstätige befragt wurden, leiden 33 Prozent der deutschen Erwachsenen unter einer krankhaften Veränderung des Organs, meist ohne es zu wissen. «Ursache ist in vielen Fällen Jodmangel», sagt Beyer. Deutschland galt bis vor einigen Jahren noch als hochgradiges Jodstoffmangelgebiet.
Die Ursache dafür liegt rund 20.000 Jahre zurück: die letzte Eiszeit. Beim Abschmelzen der Gletscher wurde das wichtige Spurenelement von den abfließenden Wassermassen fast vollständig aus dem Boden gewaschen. Daher nimmt der Bundesbürger heute im Durchschnitt nur etwa 100 Mikrogramm [tt=Viel Jod ist in Fisch oder Spinat enthalten. Weil das Spurenelement so wichtig ist, wird seit einigen Jahren Speisesalz jodiert. Außerdem wird Tierfutter mit Jod angereichert - über den Verzehr von Fleisch nimmt es der Mensch auf.]Jod auf, obwohl der Körper etwa 180 bis 200 Mikrogramm (Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung) für einen intakten Stoffwechsel benötigt.
Damit die Schilddrüse ihre umfangreichen Aufgaben bewältigen kann, braucht sie neben Eisen und Selen aber vor allem eines: Jod. Das Spurenelement ist ein wesentlicher Bestandteil für die Bildung der Schilddrüsenhormone. Bei Jodmangel versucht die Schilddrüse entgegenzusteuern, indem sie ihre Zellen vergrößert und zusätzliches Gewebe hinzu gewinnt. Durch dieses Wachstum schafft sie es, das Jod intensiver an sich zu ziehen. Allerdings wird die Schilddrüse dadurch deutlich größer, und meist kann man schon bei der Untersuchung Knoten und Verhärtungen im Gewebe tasten. Den Betroffenen wächst ein Kropf, Mediziner nennen dieses Schilddrüsenwachstum Struma.
Laut Beyer ist der Kropf nach wie vor die häufigste Schilddrüsenerkrankung, die unbehandelt zur Entstehung von heißen oder kalten Knoten und zu verschiedenen Funktionsstörungen der Schilddrüse führen kann. Nach Angaben des Internisten sind heiße Knoten überaktiv. Das heißt, sie produzieren mehr Jod als das restliche Schilddrüsengewebe - im Gegensatz zu den kalten Knoten. Letztere können unter gewissen Umständen bösartig sein.
«Umso wichtiger ist es daher, die Symptome zu beachten, um die Krankheit rechtzeitig zu erkennen», sagt Beyer. Im Frühstadium eines Kropfes genügt oft schon eine medikamentöse Hormontherapie, um die Entwicklung zu stoppen. In weit fortgeschrittenen Fällen ist jedoch manchmal eine Operation notwendig, in der das überschüssige Schilddrüsengewebe entfernt wird.
Was Unter- und Überfunktion der Schilddrüse bedeuten
Fast ebenso verbreitet wie die vergrößerte Schilddrüse sind Funktionsstörungen des Organs: Entweder werden zu viele oder zu wenige Hormone produziert. Im ersten Fall liegt eine Überfunktion, im zweiten Fall eine Unterfunktion vor. In beiden Fällen hat dies erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen.
Die Überfunktion bringt den Körper unnötigerweise auf Hochtouren. Anzeichen dafür sind verstärktes Schwitzen, Herzklopfen, Nervösität, Schlafstörungen, Durst und Gewichtsabnahme. Da vor allem das Herz und der Kreislauf betroffen sind, können sich langfristig Herzrhythmusstörungen, Vorhofflimmern sowie eine Herzschwäche entwickeln.
Eine Unterfunktion entwickelt sich dagegen nahezu schleichend. Betroffene leiden unter Müdigkeit, Durchblutungsstörungen, Übergewicht und allgemeiner Schwäche. «Der Organismus fährt quasi auf Sparflamme», erklärt Beyer. Die Folgen können immens sei: Die Blutfettwerte steigen an und das Risiko von Gefäßablagerungen (Arteriosklerose) erhöht sich. Im schlimmsten Fall hat das einen Herzinfarkt zur Folge.
Eine Unterfunktion kann durch eine Zerstörung von Schilddrüsengewebe entstehen. Eine der häufigsten Ursachen dafür ist eine chronische Entzündung, auch Hashimoto-Thyreoiditis genannt, die ebenso wie der Morbus Basedow eine Autoimmunkrankheit ist. Bei dieser Entzündung bildet der Organismus Antikörper, die sich gegen das eigene Schilddrüsengewebe richten und es vernichten. Die genaue Ursache für diesen Irrtum des Immunsystems ist nicht bekannt, es wird eine familiäre Veranlagung vermutet. Gleiches gilt für die Basedowsche Krankheit; häufig bricht sie nach besonderen psychischen Belastungen aus - wie bei Heike Schneider.
Wirklich heilbar sind Hashimoto-Thyreoiditis und Basedowsche Krankheit nicht. Allerdings lassen sie sich durch eine Hormontherapie in den Griff bekommen. Bei einer Überfunktion der Schilddrüse muss der Patient regelmäßig Medikamente einnehmen, die die Hormonproduktion hemmen. Bei der Unterfunktion nimmt der Patient das Hormon L-Thyroxin ein – eben jenes Schilddrüsenhormon, das der Körper nicht mehr selbstständig produziert.
Heike Schneider hatte nach Jahren, in denen sie versucht hat, ihre Schilddrüsenerkrankung mit Hormontabletten in den Griff zu bekommen, die Wahl zwischen einer [tt=Bei der Radiojodtherapaie schluckt der Betroffene eine Kapsel mit radioaktivem Jod, das von der Schilddrüse gespeichert wird und zu einer Zerstörung des Schilddrüsengewebes führt.]Radiojodtherapie und einer Operation. Sie hat sich für die Operation entschieden, bei der ein großer Teil ihres Schilddrüsengewebes entfernt wurde. Der Preis: Sie musste eine Schilddrüsenunterfunktion in Kauf nehmen. «Aber die lässt sich durch Schilddrüsenhormontabletten gut behandeln», sagt sie.
Die Operation liegt jetzt eineinhalb Jahre zurück. «Ich leide immer noch an Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen, und ein- bis zweimal im Monat plagen mich auch noch Muskelschmerzen und Schwindel», sagt die Mannheimerin. «Jedoch fühle ich, dass es immer weiter bergauf geht. Es wird der Tag kommen, an dem ich wieder ganz die Alte bin.»
Noch bis zum 24. April können sich Betroffene und Interessierte beim Forum Schilddrüse über Erkrankungen rund um die Schilddrüse informieren. Allgemeine Fragen werden von 9 bis 16 Uhr unter Telefon (069) 63 80 37 27 beantwortet, für medizinische Auskünfte steht eine Ärztin unter der angegebenen Rufnummer jeweils zwischen 16 und 18 Uhr zur Verfügung.