Wann nehmen Kleinkinder sich selbst als Person wahr? Viele Eltern beschäftigt diese Frage. Wissenschaftler der Berliner Humboldt-Universität haben eine Antwort gefunden.
Am Anfang ist das Spiegelbild noch fremd. Wenn Kleinkinder in den ersten Lebensmonaten voller Erkundungsdrang durch die Wohnung krabbeln, stößt die eigene Spiegelung meist auf kein größeres Interesse. Die Babys begegnen dem Gegenüber eher etwas verständnislos, denn sie halten es für eine andere Person. «Erst zwischen dem 12. und dem 18. Lebensmonat entwickeln Kleinkinder die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen», erläutert Professor Jens B. Asendorpf, Persönlichkeitspsychologe an der Berliner Humboldt-Universität.
Die plötzliche Erkenntnis «Huch, das bin ja ich!» gehört zu den entscheidenden Schritten in der Persönlichkeitsentwicklung. «Die Kinder lernen in dieser Phase, sich selbst als Person wahrzunehmen», erläutert Asendorpf. Dies geschehe bei den meisten noch vor dem Sprechenlernen. «Meistens können sie zu diesem Zeitpunkt das Wort »Ich« noch gar nicht aussprechen», sagt der Psychologe. Der Denkprozess für das Kind bestehe darin, das Spiegelbild mit der Vorstellung von sich selbst überein zu bringen. «Das ist eine fundamentale kognitive Leistung», sagt Asendorpf.
Wissenschaftlich wurde dieser Entwicklungssprung mit dem Rouge-Test erforscht. Die Kinder bekommen einen Farbklecks auf die Nase gemalt und werden zum Spielen in einen Raum gesetzt, in dem ein Spiegel steht. Sobald sie die Spiegelung entdecken, beobachteten die Forscher, ob sie dem vermeintlichen «Kind im Spiegel» an die Nase fassen oder sich selbst. «Etwa 50 Prozent der Kinder erkennt sich im Alter von etwa 15 Monaten, mit spätestens 18 Monaten können das normalerweise alle», berichtet Asendorpf. Auch die meisten Arten von Menschenaffen wie Schimpansen oder Orang-Utans «bestehen» das Experiment, die Mehrheit der übrigen Tiere dagegen nicht.
Die Kinder entwickeln in diesem Stadium allerdings nicht nur ein Bewusstsein für sich selbst, sondern ebenso für andere. Denn wer sich selbst als unverwechselbare Person wahrnimmt, beginnt gleichzeitig, ein Gefühl für die Motive und Handlungen der übrigen Menschen aufzubauen. «Die Kinder erlernen während dieser Phase der Selbsterkennung ebenfalls die Fähigkeit zur spontanen Empathie, dem Mitfühlen mit anderen», erklärt Asendorpf.
Auch dies kann nach Angaben des Psychologen in Experimenten nachvollzogen werden: Wenn einer Testperson zum Beispiel eine Puppe kaputt geht und sie deshalb ein trauriges Gesicht macht, reagieren die «Spiegel-Kinder» zumeist mit Anteilnahme und Hilfsbereitschaft. Die Kinder, die sich noch nicht im Spiegel erkennen können, begegnen einem solchen Missgeschick teilnahmslos oder irritiert, weil sie es nicht einordnen können.
Eltern, deren Kinder sich Zeit lassen mit dem Erkennen im Spiegel, müssen sich laut Asendorpf aber keine Sorgen machen. Ein früher oder später Erwerb dieser Fähigkeit habe nichts mit der Intelligenz des Kindes zu tun, beruhigt der Psychologe: «Ein Kind, das früh laufen kann, ist als Erwachsener schließlich auch nicht schneller beim 100-Meter-Lauf.»
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