Wikipedia ist eine der größten Erfolgsgeschichten im Internet. Die freie Wissenssammlung gilt als Vorzeigeprojekt gemeinschaftlicher und profitfreier Zusammenarbeit im Netz. Doch neun Jahre nach ihrer Gründung mehren sich die kritischen Stimmen.
Wer das Netz regelmäßig zur Recherche oder dem Nachschlagen von Begriffen bemüht, kommt an Wikipedia nicht vorbei. Die 2001 gegründete freie Online-Enzyklopädie ist heute in rund 260 Sprachen zugänglich, über eine Million angemeldete User (Stand 2009) tragen als Autorengemeinschaft zu den Inhalten bei. Mit mehr als einer Million Artikeln ist die deutschsprachige Wikipedia dabei die zweitgrößte Sprachversion der Online-Enzyklopädie nach der englischen. Wikipedia ist inzwischen nicht nur die umfangreichste Enzyklopädie der Welt, sondern auch das größte Projekt einer Wissenssammlung.
Eine Erfolgsgeschichte also. Doch mit dem rasanten Wachstum mehrt sich mittlerweile auch die Zahl der Skeptiker. Die Inhalte werden von einer zu kleinen Zahl an Usern kontrolliert, oft nehmen große Institutionen wie die Kirchen oder politische Parteien Einfluss auf bestimmte Einträge, die Transparenz für die Nutzer geht verloren. So formuliert der Soziologe Thomas König, der selbst als Autor für Wikipedia schreibt, die Hauptkritikpunkte. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die manchmal geringe Verlässlichkeit von Wikipedia-Artikeln ein weiterer Mangel.
Damit Wikipedia auch in der Zukunft eine Erfolgsgeschichte bleibt, sollen diese Kritikpunkte angegangen werden. Unter dem Motto «Wikipedia: Ein kritischer Standpunkt. Wer kontrolliert die Wikipedia?» berief die Forschungsinitiative Critical Point of View deshalb User und Wikipedia-Forscher aus ganz Europa zu einem Treffen in Leipzig ein, um sich mit Fragen rund um die Wissenssammlung zu beschäftigen.
Andere Länder, andere Versionen
Peter Haber, Experte für neuzeitliche Geschichte an der Universität Wien, untersuchte den Umgang von Wikipedia mit wissenschaftlichen Quellen. Sein Ergebnis: Gerade bei historischen Themen ist die eigentlich prägende Neutralität kritisch zu bewerten. Historische Ereignisse wie der Kalte Krieg werden auf den englisch-, deutsch- und russischsprachigen Wikipedia-Portalen oft aus der Perspektive des jeweiligen Landes beschrieben. Ein Problem, das sich durch die verschiedenen Sprachversionen kaum vermeiden lässt.
Speziell die kritische Auseinandersetzung mit den Quellen, die für einen möglichst fundierten Eintrag in der Online-Enzyklopädie herangezogen werden, ist von entscheidender Bedeutung. Haber weist darauf hin, dass diese Kritik «nicht nur von Historikern geübt werden sollte». Den Nutzern aber würde es allein an verlässlichem Wissen fehlen, um sich reflektierend mit den Wikipedia-Texten auseinandersetzen zu können. Doch sollen Artikel deshalb künftig nur noch von Wissenschaftlern verfasst werden? Ein weiterer Angriffspunkt für Wikipedia-Kritiker, die den Normal-User ausgeschlossen sehen.
Schottet sich Wikipedia ab?
Anne Roth, Medienaktivistin und Gründerin der unabhängigen Medienplattform Indymedia Deutschland findet es frustrierend, wenn Einträge neuer Mitglieder oft nach kürzester Zeit wieder gelöscht werden. Hier besteht die Gefahr einer Herrschaft von wenigen. Thomas König spricht in diesem Zusammenhang von «sozialer Schließung» und der Bildung einer «Oligarchie».
Herrscht diese nicht schon längst? Mathias Schindler, Projektmanager bei Wikimedia Deutschland, dem Verein hinter der Wikipedia, widerspricht dem vehement. Jeder, der wolle, könne sich einbringen und sei explizit dazu aufgefordert, seine Ideen zu verwirklichen. Und auch den Vorwurf mangelnder Transparenz lässt er nicht gelten. Als Modell der Zukunft sieht Peter Haber eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit: «Wikipedia ist ein Phänomen, das alle betrifft. Man muss aber die Grenzen kennen.» Diese auszuloten und gegebenenfalls zu setzen, ist die Aufgabe der Wissenschaft und der Nutzer.
Öffentliche Veranstaltungen wie in Leipzig, bei der Wissenschaft und Wikipedianer zusammenkommen, können helfen, sich kritisch beim Umgang mit Wikipedia auseinanderzusetzen. Den Spagat zwischen wissenschaftlichem Anspruch einerseits und basisdemokratischer Ausrichtung andererseits wird die Online-Enzyklopädie jedoch kaum zur Zufriedenheit aller hinbekommen.
naf/ivb/news.de