Höher, schneller, weiter: Der klassische Ansporn genügt manchen Sportlern nicht. Sie besteigen Wände und Hochhäuser. Sie laufen von Marathon bis nach Athen oder radeln um die ganze Welt. Was sie antreibt, ist für Wissenschaftler noch ein Rätsel.
Kaum jemand kennt den Ort heute, doch jeder kennt seinen Namen: Marathon heißt das Städtchen, das gut 40 Kilometer von Athen entfernt liegt und jener Strecke den Namen gab, die im Leben eines jeden Laufsportlers ein wichtiges Ziel bedeutet, wenn nicht das wichtigste überhaupt: Genau 42,195 Kilometer muss sich der Läufer quälen, dann gehört er zum Kreis jener Menschen, die sich Marathonläufer nennen dürfen.
Doch ist es überhaupt eine Qual, eine solche Entfernung laufend zurückzulegen? Ist es nicht auch Genuss? Oder macht es sogar süchtig? Angesichts der Massen von Sportlern auf Laufveranstaltungen in aller Welt suchen Sportwissenschaftler, Psychologen, Anthropologen und Hirnforscher nach Antworten auf die Frage, was Menschen zu solchen extremen Anstrengungen treibt.
Die Lust auf Extreme und die Suche nach den Grenzen scheinen tief im Wesen des Menschen verankert: Schon vor Zehntausenden von Jahren brachen Wagemutige auf, um das Tal zu verlassen, in dem sie geboren waren, um ferne Berge zu überschreiten oder unendlich erscheinende Ebenen zu durchqueren.
Was damals der Suche nach neuen Jagdgründen und Lebensräumen diente, könnte heute eine Entsprechung in den Extremsportarten finden: Kletterer wagen sich an überhängende Felswände, Triathleten quälen sich über Dutzende von Kilometern durch Meeresbuchten, über Berge und lange Laufstrecken, Fallschirmspringer stürzen sich aus Flugzeugen oder springen von Hochhäusern, Extrembergsteiger dringen in eisige Höhen vor, in denen kein Mensch ohne Hilfsmittel länger überleben kann.
«Odysseusfaktor» haben Anthropologen diese Rastlosigkeit genannt, die den Menschen immer wieder zu neuen Ufern aufbrechen lässt. Sie ist bei jedem unterschiedlich ausgeprägt. Der amerikanische Psychologe Marvin Zuckerman postulierte bereits in den 1960er Jahren, dass jeder Mensch ein gewisses Maß an Erregung brauche, um sich wohlzufühlen - wie viel, sei zu etwa 60 Prozent angeboren und zu 40 Prozent von der Umwelt bestimmt, schloss Zuckerman aus Studien an Zwillingen.
Welche Gene dieses Verhalten jedoch prägen und welche Vorgänge im Gehirn des Grenzgängers ablaufen, darüber wissen Forscher bisher kaum etwas. «Ein schlüssiges Modell gibt es dafür noch nicht - nur jede Menge Lösungsansätze», erklärt Oliver Stoll, Professor für Sportpsychologie an der Universität Halle-Wittenberg, in der Zeitschrift Bild der Wissenschaft.
Einer der heißen Kandidaten ist seit langem beta-Endorphin. Diese körpereigene Droge blockiert das Schmerzempfinden im Gehirn und sorgt für die Ausschüttung von Substanzen, die Cortisol sehr ähnlich sind. Dieses Hormon wiederum hilft, Zucker in Energie umzusetzen. Extreme körperliche Anstrengung kann zur Ausschüttung von beta-Endorphin und zu dem von vielen Läufern erlebten Hochgefühl führen, auch «Runner's High» genannt.
Diesen Zusammenhang jedoch im Gehirn dingfest zu machen, ist extrem schwierig, da das Endorphin schnell zerfällt. Dennoch gelang es deutschen Neurologen und Nuklearmedizinern im vergangenen Jahr, die Endorphinausschüttung nachzuweisen: Die Wissenschaftler ließen 20 Probanden eine radioaktive Substanz schlucken, die im Gehirn an denselben Stellen andockt wie Endorphin.
Zwei Stunden mussten die Testpersonen anschließend laufen, danach konnten die Forscher unter einem Tomographen erkennen, dass die radioaktive Substanz an den Andockstellen im Gehirn verdrängt worden war - es war also tatsächlich Endorphin ausgeschüttet worden und hatte den Platz des radioaktiven Stoffes eingenommen, bis es schließlich zerfiel.
«Endorphin allein erklärt die Sache nicht», schränkt der Sportpsychologe Oliver Stoll ein. Gemeinsam mit seinem Kollegen Arne Dietrich von der American University of Beirut hat er untersucht, was bei solchen extremen Belastungen im Gehirn außerdem noch geschieht. Dabei stieß er auf eine Art Sparprogramm: «Ab einem bestimmten Punkt muss das Gehirn mit dem Sauerstoff, der ihm zur Verfügung steht, stark haushalten, weil die meiste Energie im Körper in die Muskeln fließt», erläutert Stoll.
Während in diesem Sparprogramm die für die Motorik, das Sehen und die akut benötigten Körperfunktionen zuständigen Hirnregionen weiterhin aktiv bleiben, wird die Aktivität des sogenannten präfrontalen Cortex heruntergefahren, der für die Steuerung von Handlungen und das Einordnen von Informationen nötig ist. Dieses Gefühl kann als extrem angenehm empfunden werden, da alle Grübelei verschwindet und sich der Sportler nur im Hier und Jetzt fühlt - eine Reaktion, wie sie ähnlich auch Alkohol auslösen kann.
Psychologen bezeichnen diesen Zustand, in dem nur noch der Augenblick zählt, als «Flow» . «In einem solchen Moment muss sich der Mensch nicht mehr fragen, was er getan hat oder was er noch zu tun hat, sondern kann sich selbst intensiv erleben», beschreibt der Frankfurter Sportpsychologe Robert Gugutzer die Faszination dieses Gefühls.
Für manchen Sportler kann das Verlangen nach diesen positiven Anreizen zur Sucht werden: Wie bei einer Droge muss die Dosis, bei der sich das Wohlgefühl einstellt, immer weiter erhöht werden. Ohne Training kommt es zu Entzugserscheinungen wie Gereiztheit, Unruhe oder Ängstlichkeit, und Warnsignale des Körpers werden überhört oder mit Schmerzmitteln unterdrückt.
Im extremsten Fall endet diese Sucht an der letzten Grenze mit dem Tod des Sportlers - wie in dem legendären Beispiel des Radprofis Tom Simpson auf der Tour de France 1967. Ehe er kurz vor dem Gipfel des Mont Ventoux tot zusammenbrach, soll er geflüstert haben: «Setzt mich wieder auf mein Rad.»
car/aro